Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege. 335 
  
Kulturwelt ergibt, heute der der Grenzen zwischen der Jurisdiktion des untern und obern Gerichts 
erster Instanz; überall erweitert sich die Zuständigkeit des ersteren auf Kosten desletzteren. Da wo 
die Teilung der Zuständigkeit nach dem Geldwert der Streitsache erfolgt ist, erklärt man mit der 
Minderung dieses Wertesim Wirtschaftsverkehr die Notwendigkeit der Hinaufsetzung des für die Zu- 
ständigkeit entscheidenden Werts sehr einfach. Indessen zeigt sich die allgemeine Tendenz auch da, 
wo die Teilung nach sachlichen Kriterien ohne Rücksicht auf den Streitwert erfolgt ist. Man fordert 
mit Recht, dass diese Art der Teilung, für die der Ausdruck der funktionellen Zuständigkeit in erwei- 
tertem Sinn übernommen werden kann, mehr und mehr an die Stelle der mechanischen Wertgrenze 
trete, und diese Forderung geht Hand in Hand mit dem Verlangen danach, dass auch hier ein Hin- 
und Hergeben der Streitsachen unter den Gerichten der ersten Instanz, je nach ihrer Eignung zur 
einzel- oder kollegialrichterlichen Behandlung, ermöglicht werde. Jetzt entscheiden darüber die 
Parteien und, wo sie nicht anders disponieren, die starre Zuständigkeitsregel des Gesetzes. Je mehr 
sich aber der Gegensatz zwischen dem amts- und landgerichtlichen Verfahren vertieft und dadurch 
zwei völlig verschiedene ordentliche Zivilprozesse nebeneinander treten (darüber vgl. unten 13), desto 
mehr darf man auch fordern, dass den Fällen Rechnung getragen wird, in denen nach der Meinung 
des vom Kläger angegangenen Gerichts eine Abweichung von der gesetzlichen Regel dem Bedürfnis 
des Einzelfalls entspräche. Gegen eine Überweisung vom Amts- an das Landgericht spräche freilich 
das Bedenken, dass den Parteien im höheren Verfahren höhere Kosten erwachsen und der Anwalts- 
zwang auferlegt wird. Gegen die Abgabe eines einfachen und für eine Partei wenigstens besonders 
dringenden Rechtsstreits vom Landgericht an das Amtsgericht treffen diese Erwägungen, selbst 
wenn man ihnen Gewicht beilegt, nicht zu. 
Schliesslich ist auch darüber fast allgemeine Einigkeit gegeben, dass die Besetzung der Rioh- 
terbank in unseren höheren Gerichten mit fünf und sieben Richtern zu hoch gegriffen ist. Dass die 
hohe Zahl keinerlei Gewähr für die Güte der Entscheidungen bietet — vollends nicht für ein 
Mass der Vortrefflichkeit des Urteils, das die Nachteile der schwerfälligen Verhandlung aufwöge —, 
haben die Plenarentscheidungen des deutschen Reichsgerichts-Systems gezeigt. Sie haben in der 
Praxis völlig versagt, und es fehlte nicht viel, so hätte sich an ihnen gezeigt, dass auch heute noch 
ein Gesetz in desuetudinem kommen kann. In bedeutenden Streitfragen haben die Plenarentschei- 
dungen vielfach sogar eine lähmende Wirkung auf die Rechtsentwicklung geübt und zu Rückbil- 
ı ungen geführt, die unter der gewöhnlichen Rechtsprechung nicht eingetreten wären. Die Gefahr 
des Kollegialgerichts liegt immer darin, dass nur ein Kollegialmitglied, der Referent, mit dem Einzel- 
fall nach seinem Tatbestand völlig vertraut wird, während die übrigen Mitglieder nur in streitigen 
Rechtsfragen zur Entscheidung mitwirken. Dieser, der rechten Übung des Richteramts zuwider- 
gehende Zustand tritt um so eher ein, je höher die Zahl der Richter ist, die die Bank bilden. Will 
man also eine Rechtsprechung, die möglichst dem Einzelfall gerecht wird, gerade auch in den höheren 
Gerichten, so ist für die Gerichte erster und zweiter Instanz als Höchstzahl eine Bank von drei Rich- 
tern, und auch beim Reichsgericht nur für besondere Fälle nach Anordnung des Senatspräsidenten 
die Mitwirkung von mehr als drei (bis zu fünf) Richtern zu fordern. Das höhere Gewicht gibt dem 
Gericht höherer Ordnung nicht die Zahl (da doch 3X1-3 mehr bleibt als 7X0-0), sondern die 
grössere Erfahrung und die bessere Auslese der Richter, die dem höheren Gerichte zugute kommt. 
6. Die Einsetzung von Sondergerichten. denen durch technisch geschulte Beisitzer des Rich- 
ters für gewisse Arten von Rechtsstreitigkeiten eine populärere Rechtsprechung gewährleistet werden 
sollte, als sie die ordentlichen Gerichte zu bieten vermochten, ist unter den Prozessualisten von vorn- 
herein erheblichen Bedenken begegnet. Ein Weitergehen auf diesem Wegistnicht zuerwarten, daschon 
bei den Kaufmannsgerichten durchaus nicht jene Beruhigungswirkung in der öffentlichen Kritik 
der Justiz eingetreten ist, die sie üben sollten und die auch von den Gewerbegerichten vielfach aus- 
gegangen ist. Eine bleibende Bedeutung wird aber diesen Sondergerichtsordnungen in der Geschichte 
der deutschen Gerichtsordnung deshalb zukommen, weil sie einen starken Druck auf die Reform des 
ordentlichen Verfahrens ausgeübt haben und noch üben. Der Vergleich des Amtsgerichtsverfahrens 
mit dem gewerbe- und kaufmannsgerichtlichen schärft das Bedürfnis nach Schleunigkeit und Form- 
losigkeit des Prozesses; der Versuch des Ausschlusses der Rechtsanwälte beim Sondergericht gibt
	        
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