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seine Kolonien ausgegeben hat, ist sicher mehr als
die Hälfte, wenn nicht drei Viertel, als Arbeitslohn
in die Hände der Industrien gegangen und hat
direkt die Arbeitsnachfrage vermehrt und auf die
Löhne eingewirkt. Aber unsere Industrie wird auch
von der Entwicklung der Kolonien weiterhin eine
starke Unabhängigkeit gewinnen in bezug auf ihre
Rohprodukte und ihren Absatz, und wie wichtig das
ist, hofse ich dieser Tage noch an anderer Stelle aus-
führen zu können.
Auch die Landarbeiterbevölkerung, die zum er-
heblichen Teil die Olfrüchte und anderen Produkte,
die den Kolonien eigen sind, konsumiert, wird in
ihrer Lebenshaltung erleichtert. Der Zersplitte-
rung unseres Grundbesitzes in Deutschland wird in
gewisser Weise entgegengearbeitet. Denn schon jetzt
ist eine Anzahl von zweiten Söhnen besser gestellter
Landwirte teils unterwegs, teils bereit, nach Süd-
westafrika und in andere unserer Kolonien auszu-
wandern und dort neu zu beginnen, um eine weiterc
Zersplitterung des heimischen Familienbesitzes zu
vermeiden. Die Bewegung ist sehr aussichtsvoll,
wenn man bedenkt, daß Länderstrecken in Westafrika
von 1½mal der Größe des Deutschen Reiches für
Weiße besiedlungsfähig sind, in Ostafrika nach
Rechnung des Herrn Leue ein Gebiet mindestens in
der Größe von Preußen, was dort um so wichtiger
ist, als der Boden fruchtbar ist, d. h. eine große
Anzahl von Siedlern vertragen kann. Der Nutzen
für Kaufleute und für die Schiffahrt ist zu offen-
liegend, um darauf zurückzukommen.
Der Nutzen für die Entwicklung unserer Wissen-
schaft, der angewandten und theoretischen, ist ganz
außerordentlich. Deshalb handelt es sich, ab-
gesehen von der materiellen Seite der Kolonien in
dem gegenwärtigen Zustand um große nationale
Güter, und es ist notwendig, daß im gegenwärtigen
Moment verständige, in der Nation angesehene
Leute, wie es im Hamlet heißt: „Zwischen sie und
ihr Seel' im Kampf treten“, ausklärend und er-
leuchtend wirken, die Tatsachen richtig, mit ihren
Licht- und Schattenseiten darstellen, und nicht nur
selbst die Überzeugung von dem sittlichen und wirt-
schaftlichen Wert unserer kolonialen Arbeit ge-
winnen, sondern sie auch der neuen Generation
mitteilen, auf daß Deutschland der Ehre und des
Nutzens, welchen ein blühender Kolonialbesitz mit
sich bringen wird, nicht verlustig gehe und hinter
seinen Rivalen nicht zurückbleibe aus Kleinmut,
aus Mißverständnis und aus tibelwollen. Meine
Herren! In unserer Nation schlummern — wir
haben das bei mancher ernsten Gelegenheit gesehen
—vielcundstarke Kräfte, die bereit sind, sich
in den Dienst einer großen nationalen
Aufgabe zu stellen. Helfen Sie uns, diese
Kräfte zu lösen. An Sie, die Hüter der Kultur-
güter unserer Nation, an die Führer und Lehrer
unserer heranwachsenden Geschlechter geht im natio-
nalen Interesse unsere Bitte, helfen Sie uns, den
Impuls zu wecken, ohne den nach einem Bismarck-
schen Worte keine Kolonialpolitik Erfolg haben
kann.
II.
Vortrag,
gehalten auf Veranlassung des Deutschen handels-
tages am 11. Januar 1907.
Meine Herren! Ich erachte es als einen beson-
deren Vorzug, zu Ihnen, den Vertretern des deut-
schen Handels und der deutschen Industrie sprechen
zu dürfen, weil ich bei Ihnen sicher bin, das Ver-
ständnis für die Fragen, deren Behandlung und
Bearbeitung mir jetzt obliegt, zu finden, das in die
weiten Kreise unserer Nation hineinzutragen erst
noch meine und, wie ich hoffe, auch Ihre Ausgabe
sein wird. Eine im Beginn ihrer Entwicklung
stehende Kolonialverwaltung muß mit so vielen
ihrer Nalur nach unbestimmten Größen und Fak-
toren rechnen, daß es in der Tat kaufmännisch ge-
schulter Männer bedarf, um die Aussichten, die ich
Ihnen zu entwickeln die Ehre haben werde, zu be-
urteilen, ohne übertriebenen Sanguinismus nach
der einen Seite, ohne Kleinmut nach der anderen
Seite. Ich habe deshalb auch keinen Zweifel, daß
ich von Ihnen, den Männern, die einen gleichen
Entwicklungsgang durchgemacht haben, gleiche Er-
fahrungen ihr eigen nennen, nicht mißverstanden
werde.
Meine Herren! Wir leben in einer Zeit, in der
die Wogen politischer Erregung hoch gehen, und in-
mitten der Erörterungen steht die Frage des deul-
schen Kolonialwesens. Ich habe es deshalb für nötig
gehalten, festzustellen, welches der Stand dieses
unseres kolonialen Wesens zur Zeit sei, indem ich
mich dabei stütze auf die amtlichen Daten, die mir
zur Verfügung stehen, und auf die Meinungen der-
jenigen Männer, denen ich nach ernsthafter Prü-
fung ein wirkliches Urteil zutrauen zu dürsen
glaube. Dabei kann es nicht meine Absicht sein, in
dem herrschenden politischen Kampfe irgend eine
Stellung zu nehmen, noch mich an der Polemik zu
beteiligen, die sich seit langer Zeit erhoben hat.
Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit für mich erbitte, so
Heschieht das, weil es sich bei unseren Kolonien um
wichtige Güter handelt, Güter, welche liegen auf
kulturellem, auf ethischem und auf materiellem Ge-
biet, ein Dreiklang, den man auch kurz zusammen-
fassen kann dahin, daß es sich um eine nationalc
Frage handelt. Ich will mich heute darauf be-
schränken, die materielle Seite zu beleuchten, so-
weit das in der mir zur Verfügung stehenden Zeit
ermöglicht werden kann.
Meine Herren! Die deutsche koloniale Bewegung.
isi jetzt einige 20 Jahre alt, und es ist richtig, zu-