fullscreen: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Charakterisierung der kriminal-soziologischen Auf- 
fassung, daß das Verbrechen die notwendige Auße- 
rung der den Verbrecher umgebenden materiellen 
Verhältmisse und der individuellen Eigenart des 
Verbrechers ist, unter Anerkennung der Strafe als 
Zweckstrafe, solgt unbestreitbar, daß, soweit es sich 
um die Bestrafung handelt, der Leitsatz dieser Auf- 
fassung lautet: „Nicht die Tat, sondern der Täter 
ist zu bestrafen.“ Die Konsequenz dieser Auffas- 
sung führt z. B. dazu, daß der althergebrachte Be- 
griff der Schuld zunächst durch den Begriff der 
verbrecherischen Gesinnung zu ersetzen ist, daß dann 
also auch „nicht die in der einzelnen Tat verkör- 
perte Schuld, sondern die darüber weit hinaus- 
reichende Gesinnung des Täters, sein rechtsfeind- 
licher Charakter, seine verbrecherische Eigenart"“ 
den Gegenstand der Bestrafung bildet. Das muß 
dann weiterhin dahin führen, daß „die auf die 
einzelne Tat bezügliche Schuld des Täters neben 
seinem Gesamtcharakter überhaupt keine Rolle mehr 
im Strafrecht spielen“ dürfte. Insbesondere muß 
das fahrlässige Handeln einer andern Beurteilung 
und Behandlung unterzogen werden als bisher. 
Ist nämlich die Fahrlässigkeit kein Symptom einer 
rechtsfeindlichen Gesinnung, wie wohl angenom- 
men werden muß, dann muß diese Schuldart voll- 
ständig fallen gelassen werden und aus dem Straf- 
recht verschwinden. Ist sie aber ein Symptom 
einer solchen rechtsfeindlichen Gesinnung, dann 
muß alles fahrlässige Handeln bestraft werden 
vohne Rücksicht auf den Erfolg, da bei vorhan- 
dener Schuld des Täters das Ausbleiben des Er- 
folgs ein Zufall, eine verschiedene Behandlung in 
beiden Fällen also ungerecht wäre". Ist die rechts- 
feindliche Gesinnung der Gegenstand der Strafe 
und nicht die Tat, dann ist die letztere nur als 
Indiz, als Beweismittel für jene von Bedeutung. 
Sie ist aber natürlich nicht das einzige Indiz. 
Und das muß dahin führen, daß auch auf Grund 
anderer Beweismittel, welche die rechtsfeindliche 
Gesinnung dartun, Strafe eintreten muß, ja am 
letzten Ende, daß auch ohne jede äußere Betäti- 
gung dieser Gesinnung, also wegen bloßer Ge- 
dankenschuld Bestrafung erfolgen muß. Endlich 
stellt sich als Konsequenz des Satzes, daß die 
Strafe sich gegen die verbrecherische Eigenart des 
Täters richtet, heraus, daß die Aufgabe der Strafe 
„Charakterumbildung“ ist. Es müssen also Un- 
verbesserliche, gleichviel welcher Ark, unschädlich 
gemacht werden, solche aber, die zwar eine ver- 
brecherische Handlung begingen, bei denen aber 
von einer rechtsfeindlichen Gesinnung nicht die 
Rede ist, straflos bleiben, denn ihr Charakter be- 
dars keiner Umbildung. Unter Ablehnung dieser 
und anderer nicht abzuleugnenden Konsequenzen 
fixrierten die Gegner ihren Standpunkt dahin: 
„Wir wollen den Verbrecher strafen nicht wie 
v. Liszt für das, was er ist; wir wollen ihn aber 
auch nicht strafen für das, was er getan hat; son- 
dern wir wollen ihn strafen für das, was er getan 
und gewollt hat.“ 
Strafkammer — Strafprozeß. 
  
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Der zurzeit dem deutschen Reichstag zur ver- 
fassungsgemäßen Beschlußfassung vorliegende Ent- 
wurf einer Strafprozeßordnung hat verschiedenen 
vorgedachten modernen Forderungen bereits Rech- 
nung getragen, so der einer Durchbrechung des 
Legalitätsprinzips und einer besondern prozessuali- 
schen Behandlung der Jugendlichen (vgl. d. Art. 
Strafprozeß unter IV.). Der im Jahr 1909 ver- 
öffentlichte Vorentwurf zu einem neuen deutschen 
Strafgesetzbuch hat es abgelehnt, den Standpunkt 
einer bestimmten wissenschaftlichen Richtung zu ver- 
treten und insbesondere in dem Streit der Straf- 
rechtstheorien eine ausschließliche Stellung ein- 
zunehmen. Die Begründung ist der Ansicht, daß 
die ausschließliche Befolgung einer bestimmten 
Theorie bei strenger Durchführung zu praktischen 
Unzuträglichkeiten führe, daß auch die Zwecke der 
Strafe nicht lediglich aus einem Gesichtspunkt zu 
erfassen seien, sondern wie fast alle menschlichen 
Einrichtungen aus mehreren; Vergeltung, Besse- 
rung, Schutz der Gesellschaft, General- und Spe- 
zialprävention lägen zusammen in ihr beschlossen. 
Im großen und ganzen auf dem Boden der klas- 
sischen Schule stehend, hat der Entwurf jedoch der 
modernen Richtung eine Anzahl von Zugeständ- 
nissen gemacht, die aus allgemeinen Gründen sich 
rechtfertigen lassen. Dahin gehören besonders 
Vorschläge, die auf Einführung der sog. bedingten 
Verurteilung in der Form des bedingten Straf- 
aufschubs und verschiedener sog. „sichernder Maß- 
nahmen" gerichtet sind und soweit allerdings nicht 
dem Vergeltungsgedanken entsprechen, sondern auf 
Präbention abzielen. 
Literatur. Die verschiedenen Lehrbücher des 
Strafrechts, namentlich die von Berner u. v. Liszt 
u. die dort angegebene sehr umfangreiche Literatur. 
Feuerbach-Mittermaier, Lehrbuch des gemeinen in 
Deutschland gültigen Peinlichen Rechts (1847); 
Abegg, Die verschiedenen Strafrechtstheorien (1835); 
Hepp, Darstellung u. Beurteilung der deutschen 
Strafrechtssysteme (1843); Walcker, Die letzten 
Gründe von Recht, Staat u. Strafe (1813); v. Bar, 
Geschichte des deutschen Strafrechts u. der Straf- 
rechtstheorien (1882); v. Holtzendorff, Handbuch 
des deutschen Strafrechts. 1: Die geschichtl. u. phi- 
losoph. Grundlagen des Strafrechts (1871); Cath- 
rein, Die Grundbegriffe des Strafrechts (1905); 
Aschaffenburg, Das Verbrechen u. seine Bekämpfung 
(1906); v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze u. Vor- 
träge (2 Bde, 1905); Monatsschrift für Kriminal- 
psychologie u. Strafrechtsreform, hrsg. von Aschaf- 
fenburg; Kritische Beiträge zur Strafrechtsreform, 
hrsg. von Birkmeyer u. Nagler; Mitteilungen der 
internat. kriminalist. Vereinigung; Zeitschrift für 
die ges. Strafrechtswissenschaft. — Cesare Lom- 
broso, Der Verbrecher in anthropolog., ärztl. u. 
jurist. Beziehung. In deutscher Bearbeitung von 
Fränkel (1887). [Wellstein.) 
Strafkammer siehe Gerichtsverfassung, 
deutsche. 
Strasprozeß. (I. Begriff und Wesen des 
Strafprozesses. II. Geschichtliches: römischer, alt- 
germanischer, kanonischer, gemeiner und partiku-
	        
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