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Charakterisierung der kriminal-soziologischen Auf-
fassung, daß das Verbrechen die notwendige Auße-
rung der den Verbrecher umgebenden materiellen
Verhältmisse und der individuellen Eigenart des
Verbrechers ist, unter Anerkennung der Strafe als
Zweckstrafe, solgt unbestreitbar, daß, soweit es sich
um die Bestrafung handelt, der Leitsatz dieser Auf-
fassung lautet: „Nicht die Tat, sondern der Täter
ist zu bestrafen.“ Die Konsequenz dieser Auffas-
sung führt z. B. dazu, daß der althergebrachte Be-
griff der Schuld zunächst durch den Begriff der
verbrecherischen Gesinnung zu ersetzen ist, daß dann
also auch „nicht die in der einzelnen Tat verkör-
perte Schuld, sondern die darüber weit hinaus-
reichende Gesinnung des Täters, sein rechtsfeind-
licher Charakter, seine verbrecherische Eigenart"“
den Gegenstand der Bestrafung bildet. Das muß
dann weiterhin dahin führen, daß „die auf die
einzelne Tat bezügliche Schuld des Täters neben
seinem Gesamtcharakter überhaupt keine Rolle mehr
im Strafrecht spielen“ dürfte. Insbesondere muß
das fahrlässige Handeln einer andern Beurteilung
und Behandlung unterzogen werden als bisher.
Ist nämlich die Fahrlässigkeit kein Symptom einer
rechtsfeindlichen Gesinnung, wie wohl angenom-
men werden muß, dann muß diese Schuldart voll-
ständig fallen gelassen werden und aus dem Straf-
recht verschwinden. Ist sie aber ein Symptom
einer solchen rechtsfeindlichen Gesinnung, dann
muß alles fahrlässige Handeln bestraft werden
vohne Rücksicht auf den Erfolg, da bei vorhan-
dener Schuld des Täters das Ausbleiben des Er-
folgs ein Zufall, eine verschiedene Behandlung in
beiden Fällen also ungerecht wäre". Ist die rechts-
feindliche Gesinnung der Gegenstand der Strafe
und nicht die Tat, dann ist die letztere nur als
Indiz, als Beweismittel für jene von Bedeutung.
Sie ist aber natürlich nicht das einzige Indiz.
Und das muß dahin führen, daß auch auf Grund
anderer Beweismittel, welche die rechtsfeindliche
Gesinnung dartun, Strafe eintreten muß, ja am
letzten Ende, daß auch ohne jede äußere Betäti-
gung dieser Gesinnung, also wegen bloßer Ge-
dankenschuld Bestrafung erfolgen muß. Endlich
stellt sich als Konsequenz des Satzes, daß die
Strafe sich gegen die verbrecherische Eigenart des
Täters richtet, heraus, daß die Aufgabe der Strafe
„Charakterumbildung“ ist. Es müssen also Un-
verbesserliche, gleichviel welcher Ark, unschädlich
gemacht werden, solche aber, die zwar eine ver-
brecherische Handlung begingen, bei denen aber
von einer rechtsfeindlichen Gesinnung nicht die
Rede ist, straflos bleiben, denn ihr Charakter be-
dars keiner Umbildung. Unter Ablehnung dieser
und anderer nicht abzuleugnenden Konsequenzen
fixrierten die Gegner ihren Standpunkt dahin:
„Wir wollen den Verbrecher strafen nicht wie
v. Liszt für das, was er ist; wir wollen ihn aber
auch nicht strafen für das, was er getan hat; son-
dern wir wollen ihn strafen für das, was er getan
und gewollt hat.“
Strafkammer — Strafprozeß.
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Der zurzeit dem deutschen Reichstag zur ver-
fassungsgemäßen Beschlußfassung vorliegende Ent-
wurf einer Strafprozeßordnung hat verschiedenen
vorgedachten modernen Forderungen bereits Rech-
nung getragen, so der einer Durchbrechung des
Legalitätsprinzips und einer besondern prozessuali-
schen Behandlung der Jugendlichen (vgl. d. Art.
Strafprozeß unter IV.). Der im Jahr 1909 ver-
öffentlichte Vorentwurf zu einem neuen deutschen
Strafgesetzbuch hat es abgelehnt, den Standpunkt
einer bestimmten wissenschaftlichen Richtung zu ver-
treten und insbesondere in dem Streit der Straf-
rechtstheorien eine ausschließliche Stellung ein-
zunehmen. Die Begründung ist der Ansicht, daß
die ausschließliche Befolgung einer bestimmten
Theorie bei strenger Durchführung zu praktischen
Unzuträglichkeiten führe, daß auch die Zwecke der
Strafe nicht lediglich aus einem Gesichtspunkt zu
erfassen seien, sondern wie fast alle menschlichen
Einrichtungen aus mehreren; Vergeltung, Besse-
rung, Schutz der Gesellschaft, General- und Spe-
zialprävention lägen zusammen in ihr beschlossen.
Im großen und ganzen auf dem Boden der klas-
sischen Schule stehend, hat der Entwurf jedoch der
modernen Richtung eine Anzahl von Zugeständ-
nissen gemacht, die aus allgemeinen Gründen sich
rechtfertigen lassen. Dahin gehören besonders
Vorschläge, die auf Einführung der sog. bedingten
Verurteilung in der Form des bedingten Straf-
aufschubs und verschiedener sog. „sichernder Maß-
nahmen" gerichtet sind und soweit allerdings nicht
dem Vergeltungsgedanken entsprechen, sondern auf
Präbention abzielen.
Literatur. Die verschiedenen Lehrbücher des
Strafrechts, namentlich die von Berner u. v. Liszt
u. die dort angegebene sehr umfangreiche Literatur.
Feuerbach-Mittermaier, Lehrbuch des gemeinen in
Deutschland gültigen Peinlichen Rechts (1847);
Abegg, Die verschiedenen Strafrechtstheorien (1835);
Hepp, Darstellung u. Beurteilung der deutschen
Strafrechtssysteme (1843); Walcker, Die letzten
Gründe von Recht, Staat u. Strafe (1813); v. Bar,
Geschichte des deutschen Strafrechts u. der Straf-
rechtstheorien (1882); v. Holtzendorff, Handbuch
des deutschen Strafrechts. 1: Die geschichtl. u. phi-
losoph. Grundlagen des Strafrechts (1871); Cath-
rein, Die Grundbegriffe des Strafrechts (1905);
Aschaffenburg, Das Verbrechen u. seine Bekämpfung
(1906); v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze u. Vor-
träge (2 Bde, 1905); Monatsschrift für Kriminal-
psychologie u. Strafrechtsreform, hrsg. von Aschaf-
fenburg; Kritische Beiträge zur Strafrechtsreform,
hrsg. von Birkmeyer u. Nagler; Mitteilungen der
internat. kriminalist. Vereinigung; Zeitschrift für
die ges. Strafrechtswissenschaft. — Cesare Lom-
broso, Der Verbrecher in anthropolog., ärztl. u.
jurist. Beziehung. In deutscher Bearbeitung von
Fränkel (1887). [Wellstein.)
Strafkammer siehe Gerichtsverfassung,
deutsche.
Strasprozeß. (I. Begriff und Wesen des
Strafprozesses. II. Geschichtliches: römischer, alt-
germanischer, kanonischer, gemeiner und partiku-