Full text: Deutsches Kolonialblatt. XX. Jahrgang, 1909. (20)

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brauchen, indem sie befonders Genußmittel, wie 
Alkohol, Tabak und Schmuckgegenstände, weit über 
den Bedarf auf Borg nimmt und dadurch in eine 
recht drückende wirtschaftliche Abhängigkeit gerät. 
Der wohlhabendere und maßgebende Teil der 
Bevölkerung besteht in seiner Mehrzahl aus den 
Abkömmlingen der portugiesischen Einwanderer, die 
sich selbst „Brasilianer“ im engeren Sinne des 
Wortes nennen. Der blutreine weiße Brasilianer, 
der „Brasileiro“ betätigt sich vorzugsweise im 
Handel und in der Verwaltung oder auch in der 
Bewirtschaftung des Landbesitzes. Hinsichtlich der 
Arbeit haben ihm die südliche Sonne und das südliche 
Blut die gleichen Neigungen eingeimpft wie den 
Angehörigen der Mischrassen; indessen zeigt er be- 
merkenswerte Intelligenz, insbesondere jene Abart 
dieser Gottesgabe, die den südlichen Völkern beson- 
ders eigen ist, die Schlauheit. 
Der Europäer tut gut, seine heimischen Begriffe 
von Höflichkeit im Verkehr mit dem Brasilianer 
umzuwerten. Wenn der Europäer pedantisch genug 
ist, seiner Höflichkeit durch die Aufrichtigkeit eine 
Grenze zu setzen, dann ist diese klare und glatte 
Buchführung im Benehmen dem Brasilianer fremd. 
Der Brasilianer ist höflich, um höflich zu sein, nicht 
um seinen Fonds von Aufrichtigkeit und Wahr- 
haftigkeit zu zeigen. Sein portugiesisches Idiom 
überladet er noch viel mehr als der Sprachgenosse 
von der anderen Seite des Ozeans mit Höflichkeits- 
floskeln, ohne daran zu denken, daß diese tönenden 
Phrasen wörtlich zu nehmen seien. Der Europäer, 
der das ernst nimmt, sieht sich bald getäuscht; aber 
nicht der Brasilianer hat ihn getäuscht, sondern er 
sich selbst, indem er die fremde Sprache mißverstand. 
Ebensowenig wie unser „Hochachtungsvoll ergebenst"“ 
unter den Briefen der strenge Ausdruck einer un- 
bedingten Hochachtung und Ergebenheit ist, sind die 
von Höflichkeit überfließenden Versicherungen und 
Versprechungen des Brasilianers wörtlich zu nehmen. 
Eine Bitte abzuschlagen, würde sehr unhöflich sein, 
deshalb bringt es der Brasilianer fertig, eine Zu- 
sage, die ihrer Natur nach nur einem Bitttsteller 
gehalten werden kann, zu gleicher Zeit einem halben 
Dutzend zu geben. Es kommt nur auf den Ton 
und die Umstände an, wenn man beurteilen will, 
was es mit einem „ja“ dieser liebenswürdigen 
Kinder der Sonne auf sich hat. Zur Kenntuis 
ihrer Umgangssprache genügt nicht das Erlernen 
ihrer Grammatik und ihres Lexikons. In Deutsch- 
land geben sich zwei Bekannte die Hand, in Bra- 
silien fallen sie sich stürmisch um den Hals und 
küssen sich auf beide Wangen. Zu bedenuten hat 
beides dasselbe. Chacun à son got. 
Ahnlich wie mit dem Wortgepränge, so verhält 
es sich in den Sitten dieses Volkes auch mit der 
Außenseite mancher anderen Dinge. Der glänzende 
Schein, und oft auch nur der bunte Schein, hat für 
dieses Volk einen sehr viel größeren Wert als für 
uns kühle Nordländer. Wie wir den tüchtigen Ge- 
  
halt auch schon bei unscheinbarer Hülle schätzen, so- 
verfällt der Brafsilianer sehr leicht in das entgegen- 
gesetzte Extrem, daß er über der schönen Enveloppe 
den Inhalt vernachlässigt. Das bezieht sich auf 
öffentliche Einrichtungen ebenso gut wie auf pribate 
Verhältnisse, auf Kleidung und Wohnung, und ins- 
besondere auch auf die Bildung. Doktoren gibt es 
in diesem Lande sehr viele, wie denn diese Republi- 
kaner, ganz so wie andere südliche Menschenkinder, 
überhaupt für schöne und lange Titel schwärmen; 
aber das dazu nötige Examen ist nach kurzem Be- 
such einer entsprechenden Lehranstalt leicht gemacht 
und würde bei uns einem Abiturienten ein Ver- 
gnügen bereiten. Der Europäer darf nicht unter- 
lassen, dieser Richtung der Rasse auf den äußer- 
lichen Effekt Rechnung zu tragen, wenn er nicht fehl- 
greifen will. 
Im allgemeinen ist der Brasilianer sehr genüg- 
sam und zusrieden. Die meist außerordentlich großo 
Ergiebigkeit des Bodens und die geringe Kon- 
kurrenz, die infolge der schwachen Besiedelung der 
weiten Fläche vorhanden ist, gestatten die Befriedi- 
gung der Bedürfnisse ohne große Anstrengung. 
Die Regierenden wissen diese Genügsamkeit zu 
schätzen. Sie sichert in manchen Staaten, besonders 
des Nordens, die Fortdauer von Zuständen, die 
eine kritischer gestimmte Bevölkerung nachdenklich und 
zuweilen vielleicht sogar rechtunbequem machen könnten. 
Wie in den meisten wenig besiedelten Ländern, 
so ist auch in Brasilien die Gastfreundschaft in 
weitestem Sinne zu finden. Besonders wenn man 
die Städte verläßt, ist man als Fremder immer 
wieder auf Gastfreundschaft angewiesen. Ich kann 
sowohl aus eigener Erfahrung wie aus Mitteilungen 
anderer hierin das Beste von den Brasilianern be- 
richten. · 
Die Bevölkerungszahl ist nicht genau festgestellt. 
Eine zuverlässige Volkszählung ist bei dem weiten, 
wenig bevölkerten Gebiete, das zum Teil sogar noch 
unerforscht ist, auch gar nicht möglich. Im Jahre 
1890 wurde die Bevölkerung auf 14 Millionen, 
1906 auf 18 Millionen, von anderen auf 21 Mil- 
lionen geschätzt. 
Von Ausländern dürften in Brasilien wohl alle 
Nationen vertreten sein. An Zahl stehen Portu- 
giesen und Italiener an erster Stelle. Die Portu- 
giesen befassen sich vorzugsweise mit Kleinhandel, 
sind aber auch viel als Arbeiter tätig. Die Italiener 
stellen das Hauptkontingent der Plantagenarbeiter. 
Engländer, Franzosen und Nordamerikaner sind in 
viel geringerer Zahl, meist im Handel und in tech- 
nischen Unternehmungen, tätig. Die Deutschen, 
wohl zwischen 300 000 und 400 000, betreiben in 
den Südstaaten meist Acker= und Plantagenbau und 
nehmen im Handel sowie intechnischen Unternehmungen 
und an wissenschaftlichen Instituten angesehene, oft 
erste Stellungen ein. 
Die Dichtigkeit der Bevölkerung ist in den 
einzelnen Staaten sehr verschieden. Der Norden
	        
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