Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXIII. Jahrgang, 1912. (23)

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Die Westprovinz umfaßt in der Hauptsache die 
Stadt= und Staatenbildungen der einzelnen Teile des 
VYoruba-Stammes. Die Yoruba wohnen zumeist in 
großen, zum Teil weit auseinanderliegenden Städten, 
mit ausgebildeter Verwaltungsorganisation, von deren 
Größe und Bedeutung die oben mitgeteilten Bevöl- 
kerungsziffern eine Vorstellung geben mögen. Sie 
haben sich zumeist freiwillig durch Vertrag unter das 
britische Protektorat gestellt und hierbei die Zusiche- 
rung bedeutsamer Vorrechte erhalten. Im Laufe der 
Jahre sind diese zum Teil beseitigt. Toch hat zum 
Beispiel Abeokuta seine nahezu absolute Selbständigkeit 
in internen Angelegenheiten gewahrt. In dem „Igba 
United Government“ von Abeokuta wird die gesamte 
Verwaltung durch Eingeborene ausgeübt. An der 
Spitze steht der Alakin, der oberste Häuptling, ihm zur 
Seite das Council. England hält in der Stadt, die 
mit dem zugehörigen Landbezirk 1869 Quadratmeilen 
umfaßt, einen Residenten, der zwar weitgehenden Ein- 
fluß hat, aber keine gesetzliche Machtmittel besitzt, seine 
Wünsche durchzudrücken. Der Prolektorats-Vertrag 
sichert Abeokuta anusdrücklich die Unabhängigkeit in 
allen inneren Angelegenheiten zu, und die Cgba sind 
eisersüchtig auf deren Wahrung bedacht. So wird 
denn auch der Oberhäuptling von Abcokuta von dem 
Gouverneur in Lagos als nahezu unabhängiger Herr- 
scher estimiert und bei offiziellen Angelegenheiten durch 
eine große Kordialität in der Behandlung ausgezeich- 
net. Die Verwaltung der Stadt durch die Eingebore- 
nen ist im übrigen nach europäischem Muster einge- 
richtet. Bezeichnend ist, daß das Gouvernement von 
Süd-Nigerien dem Staat Abeokuta zum Bau einer 
Wasserleitung E 30 000 vorgestreckt hat, 
In Ibadan, zusammen mit seinem Landbezirk 
etwa 4000 Quadratmeilen, geht dagegen die ursprüng- 
liche Organisation langsam, aber stetig dem Versfall 
eutgegen. Die Antorität des obersten Häuptlings, des 
Bali, ist untergraben, die des englischen Residenten 
wird noch nicht anerkannt. Die Zustände, die sich hier- 
aus entwickeln, sind nicht erfreulich und kaum für eine 
längere Dauer geeignet. 
Die Ansammlungen der gebildeten und teilweise 
verbildeten Neger in Lagos, zusammen mit dem Be- 
stehen der mächtigen Voruba-Gemeinschaften im nähe- 
ren und ferneren Hinterland, in denen die europäische 
Kultur bisher erst ihren zersetzenden Einfluß geltend 
gemacht hat, komplizieren die Verhältnisse in der 
Lestprovinzg für die Verwaltungspolitik ganz erheb- 
lich. Schon jetzt ist der NYoruba-Einfluß unter der 
Intelligenz von Lagos prädominierend. Die Einge- 
borenen-Zeitungen von Lagos suchen ihn nach Mög- 
lichkeit zu stärken und den Nationalsinn ihrer Leser 
zu wecken. Schon wird die Gründung einer unabhän- 
gigen christlichen Kirche, die aber die Vielweiberei 
gostattet, lebhaft erörtert. Jegliche Maßnahme der 
Regierung wird in den Zeitungen eingehend und häu- 
fig nicht rein sachlich kritisiert. Dank der Beziehungen 
zwischen den führenden Köpfen in Lagos und der ein- 
gesessenen Bevölkerung der großen Städte im Innern 
gehen die Blätter mit diesen Kritiken auch in das 
Land hinaus. Das Gift der Zersetzung der Europäer- 
Autorität dringt so von Lagos aus auch in das 
Innere. 
In der Zentral= und Ostprovinz von Süd-Nige- 
rien liegen die Verhällnisse wesentlich anders. Beide 
Provinzen sind überwiegend von Heidenstämmen be- 
wohnt, unter denen der Islam nur langsam Fort- 
schritte macht. Warri und Calabar, die Hauptstädte 
der Provinzen, sind lediglich die Sitze der Verwaltun- 
gen und Stapelplätze für den europäischen Handel, auf 
dem Gebiet der Eingeborenen-Politik kommt ihnen 
eine besondere Bedentung nicht zu. In der Mangro- 
  
ven= und Llpalm-Region stehen die Eingeborenen am 
tiessten. Uber das eigene Dorf geht das Interesse des 
Eingeborenen nicht hinaus. Etwas höher in dem 
Kulturstand und etwas anspruchsvoller sind die Bewoh- 
ner des nördlich sich anschließenden Wald= und Baum- 
steppengeländes. Die wichtigsten Stämme sind die 
Edo, etwa 400 000, und die Ibo, etwa 4 000 000 See- 
len. Sie wohnen in zum Teil dicht beieinander- 
liegenden Dörfern, die fast sämtlich selbständig sind. 
Sie haben zum Teil Häuptlinge, zum Teil nicht, und 
nur Familienälteste stehen den einzelnen Dörfern vor. 
Ernstere politische Schwierigkeiten gibt es nicht mehr, 
wenn auch die Unbändigkeit und der sich gegen jeden 
Cingriff auflehnende Freiheitsdrang der Eingeborenen 
hin und wieder ein bewaffnetes Einschreiten notwendig 
macht.,. In der Zentralprovinz kam der Regierung 
die in dem alten Benin-Reich, in gewisser Beziehung 
einem Gegenstück zu dem Dahomey-Reich in Porto= 
novo, bestehende Gewöhnung der Eingeborenen an die 
Antorität einer übergeordneten Stelle zustatten. Unter 
Verwertung der früheren Organisation des Benin- 
Reiches wurden einzelne Mitglieder der alten Häupt- 
lingsfamilie für ein oder mehrere Dörfer verantwort- 
lich gemacht. In der Ostprovinz, bei New Calabar, 
sind dann noch die Efik zu erwähnen, ein Fischer= und 
Händlervolk mit ähnlicher sozialer Organisation. 
Liegen hiernach die politischen Verhältnisse in diesen 
beiden Provinzen verhältnismäßig einfach, so sind die 
durch die Natur geschaffenen Schwierigkeiten um so 
größer: ist doch das Gebiet im Delta zur Regenzeit 
vielfach überschwemmt. Sie erklären auch mit ihrer 
Unterbindung oder Erschwerung des Verkehrs den lie- 
fen Kulturstand der dortigen Eingeborenen. 
Auch in Nord-Nigerien treten sich Gegensätze 
gegenüber. Am Benue entlang finden sich unabhängige, 
selbständige Dorfschaften der Heiden ohne Stammes- 
organisation oder Häuptlingsschaft. Ebenso sehlen 
ihnen Standesunterschiede irgendwelcher Art. Das 
Sprachengemisch ist so bunt wie im Transkara-Gebiet 
Togos. Die Leute gehen noch mit Pfeil und Bogen 
zur Ackerbestellung, jederzeit dem Überfall eines Nach- 
bardorfes ausgesetzt. Einziger Handelsartikel ist Salz. 
Da Land im Uberflusse vorhanden ist, so ist Privat- 
eigentum an Land unbekannt. Teilweise sind sie noch 
Kannibalen, denen Kleidung fremd ist. Auf etwas 
höherer Stufe stehen die organisierten Heidenstämme, 
namentlich westlich des Nigers und im Sndosten des 
Protektorates wohnhaft, unter anerkannten Häupt- 
lingen. Die wichtigsten unter ihnen sind die Mun- 
schis, die unter sich in verschiedene Landschaften zer- 
fallen. Sie sind ausgezeichnete Ackerbauer, aber gelten 
als wild und unbotmäßig und haben ja bekanntlich 
auch der deutsch-englischen YNola-Croß-Grenzerpedition 
nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereitet. Diese halb- 
organisierten Stämme waren das Hauptgebiet der 
früheren Sklavenjagden und sind zum Teil bei den 
früheren Kämpfen in eine Abhängigkeit der moham- 
medanischen Staaten des Nordens geraten. 
In die weite Hochfläche zwischen Niger und 
Tschad teilen sich das alte, schon 1489 auf portugie- 
sischen Karten genannte Reich Bornu im Osten und 
westlich die Haussa-Slaaten, die als geistliches Ober- 
haupt den Sultau von Sokoto anerkennen, im übrigen 
sich aber allmählich zu selbständigen Staaten mit eige- 
nen Dynastien entwickelten. Tiese waren schon vor 
der britischen Herrschaft wohlorganisierte, mächtige 
Staatswesen mit anerkannten Emiren als Oberhäupt= 
tern, einer geregelten Gerichtspflege, in der das Recht 
des Koran zur Anwendung kam, und mit einem aus- 
gebanten Verwaltungs= und Besteuerungs-Snstem. 
Die wichtigsten unter ihnen sind Kano, Zaria, Bida 
und Kontagora.
	        
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