Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXIII. Jahrgang, 1912. (23)

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Es finden sich also so ziemlich alle Kulturstufen 
und Grade sozialer Entwicklung unter den Farbigen 
der drei Kolonien: dem nackten Kannibalen steht der 
in England erzogene Rechtsanwalt, in dessen Vor- 
immer Europäer stundenlang warten, der primitivsten 
Familiensiedlung das hochentwickelte mohammedani- 
sche Staatswesen mit seinem weitverzweigten Verwal- 
tungsapparat gegenüber. Zwischen ihnen liegen die 
Zwischenstufen höherer Negerkultur und europäischer 
Halbkultur, der Dorf= und Stammesgemeinschaften und 
der antokratisch regierten Negerreiche: wahrlich, ein 
nicht gauz einfaches Feld für koloniale Betätigung. 
II. 
Allgemeine Grundsätze der englischen Kolonial= und 
Eingeborenen-Politik. 
Oberstes Leitmotiv in der englischen Kolonial= 
politik ist die Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen 
Verhältnisse. Dem englischen Recht ist der Schema- 
tismus, der um den Preis der Einförmigkeit die ver- 
schiedenartigsten Gebiete unter dieselbe Norm zu zwin- 
gen sucht, fremd. Die weitgehende Dezentralisation 
innerhalb des großen britischen Kolonialreichs, die 
auch das Schwergewicht des Gesetzgebungswerkes von 
der Zentrale fort in die Kolonien verlegie, erleichterte 
die Anwendung dieses Grundsatzes. Weitgehende 
Mannigfaltigkeit innerhalb des geschaffenen Rechts 
und eine gewisse Unübersichtlichkeit für den Außen-= 
sichenden, aber auch weitgehendste Anpassung an die 
erhältnisse der einzelnen Besitzung war die Folge. 
Immerhin lassen sich auch im englischen Kolonial- 
recht schlechthin und somit auch für das Recht der 
Goldküste und der beiden Nigerien, gewisse allgemein 
gültige Normen erkennen: 6 
Da ist zunächst ein fundamentaler Unterschied 
zum deutschen Recht: das englische Recht kennt ähnlich 
wie das französische nicht den Grundsatz der besonde- 
ren Behandlung der Angehörigen der weißen und der 
farbigen Rasse, wenigstens nicht in der Theoric. Nach 
englischem Recht sindet vielmehr für alle Bewohner 
einer Kolonie das gleiche Recht und somit das für die 
Europäer geltende Recht grundsätzlich auch auf Farbige 
Anwendung. Ausnahmen müssen gesetzlich festgelegt 
sein. Dem entspricht auch, daß für die Mulatten als 
solche Sonderbestimmungen nicht bestehen und daß 
anch für die Behandlung der Syrer rassenpolitische Er- 
wägungen nicht in Betracht kommen. Die Syrer sind 
im übrigen in den englischen Kolonien noch nicht, wie 
teilweise in den französischen, zu einer wirtschaftlichen 
Gefahr geworden. Lediglich aus sanitären Rücksichten 
ersordern sie eine besondere Uberwachung. 
Die sich aus dem allgemeinen Prinzip der An- 
wendung gleichen Rechts auf sämtliche Einwohner ohne 
Unterschied der Rasse oder Abstammung notwendiger- 
weise ergebenden Schwierigkeiten werden in der Praxis 
von vornherein dadurch gemildert, daß man für die 
Art der staatsrechtlichen Angliederung eines neuen 
Gebietes an das britische Reich, einer Einverleibung 
in die .King's Dominiens“ je nach dessen Kulturstufe 
entweder die Form der „Colony'“ oder die des 
„ Protectorate“ wählt, während in der Praris sich 
die Verwaltungstätigkeit in den Protektoraten nicht 
viel von der in der „Colony“ unterscheidet. Wird 
ein Gebiet zur Colonxy erklärt, so wird in ihm auch 
das englische Recht „tme common law, the doctrincs 
# eEquity and the statutes of general application“ 
eingeführt. Die sämtlichen Bewohner der Colony 
sind ohne Unterschied der Rasse „British subjects“ 
und genießen, sofern nicht besondere Ausnahmegesetze 
Platz greifen, auch gleichmäßig die Vorteile der Unter- 
worfenheit unter englisches Recht. Im „Protecto- 
  
rate“ ist die Angliederung keine so enge; die Bewohner 
werden nicht „British subjects“, sondern nur 
„British protected subjects“ und unterstehen daher 
an sich auch nicht britischem Recht. Sie behalten ihr 
eigenes Recht, sofern nicht besondere Gesetze erlassen 
sind oder anderes Recht für anwendbar erklären. Die 
grundsätzliche Rechtslage ist für sie also gerade die um- 
gekehrte wie die der Bewohner der Colony. 
Innerhalb der Goldküste und Nigeriens kam hier- 
nach jenes allgemeine Prinzip der unmittelbaren An- 
wendbarkeit gleichen Rechts auf beide Rassen nur für 
das Gebiet der eigentlichen Cold Coast Colony und 
der Colony of Southern Nigeria zur Anwendung, 
d. h. auf die seit Jahrhunderten unter europäischem 
Einfluß stehenden und mit europäischen Anschanungen 
durchtränkten Küstengebiete. In den später erworbe- 
nen weiten Gebieten der Protektorate von Ashanti, 
Northern Territories of the Cold Coast. Soutliern 
and Northern Nigeria behielten die Bewohner zu- 
nächst ihr eigenes altes Recht. Erst spätere Sonder- 
gesetze schufen hierin eine Anderung. Damit war für 
sie in der Praxis in der weitüberwiegenden Mehrzahl 
der Fälle die im deutschen Recht grundsätzlich aner- 
kannte unterschiedliche Behandlung von Weißen und 
Farbigen gegeben. In der Beurteilung der rechtlichen 
Stellung der Eingeborenen in den „Colonies'’ muß 
man berücksichtigen, daß die „Colonies“ erworben 
wurden, als die Politik des „Laisseraller“ ") in Eng- 
land für seine überseeischen Besitzungen in Blüte stand, 
daß sie aus nur Handelszwecken dienenden Nieder- 
lossungen, für die eine Eingeborenen-Politik mit be- 
stimmten Richtlinien ohne Interesse war, hervor- 
gegangen sind und daß schon während jener frühen 
Zeit eine ganze Anzahl von Eingeborenen von der 
Möglichkeit Gebrauch machte, sich in England englische 
Bildung anzueignen. JIm übrigen blieben, ebenso wie 
im deutschen Recht, der Schutz der Eingeborenen im 
Verein mit dem Streben, sie wirtschaftlich und kulturell 
zu fördern, dabei aber ihre Stammeseinrichtungen und 
Sitten, soweit dies die Grundsätze der Menschlichkeit 
und Gesittung eines modernen eunropäischen Staates 
gestatten, zu schonen, die Hauptrichtlinien für die all- 
gemeine englische Kolonialpolitik. 
Sobald für die „Colony“ mit dem Tage ihrer 
Konstitunierung und für die Protektorate je nach Bedarf 
das Recht des Mutterlandes, das an einem bestimmten 
Tage in Geltung war, als anwendbar erklärt ist, bleibt 
der weitere Ausbau des Gesetzgebungswerkes den ver- 
schiedenen Gebieten selbst überlassen. Sie schaffen sich 
unbeschadet des immer vorbehaltenen Einspruchsrechts 
der Kronc, die weiteren Bestimmungen selbst. In den 
„Colonies"“ geschieht dies durch das Legislative Coun- 
cil. Ihm können bei seiner Zusammensetzung aus 
amtlichen und nichtamtlichen ernannten Mitgliedern 
auch Eingeborene angehören, und in Accra wie in 
Lagos ist dies auch tatsächlich der Fall. Gegen die 
Beschlüsse des Council hat der Gouverneur nur ein 
Vetorecht. Anderseits kann er, meist als „Covernor 
in Council“, d. h. nach Anhörung des „Executive 
Council“, Ausführungsbestimmungen aller Art zu dem 
vom „Legislative Council“ geschaffenen Ordinanccs 
erlassen. · 
Unabhängig hiervon arbeitet die Gesetzgebungs- 
maschine in den Protektoraten. — Auf die Unter- 
stellung Süd-Nigeriens unter die Zuständigkeit des 
„Legislative Council“ in Lagos ist schon hingewiesen. 
— In ihnen erläßt der Gouverneur auf Grund der 
ihm übertragenen Machtbefugnisse selbständig die für 
erforderlich erachteten Bestimmungen. Mangels einer 
gesetzgzebenden Körperschaft ist den Eingeborenen eine 
*) Vgl. Egerton, S. 361 ff., Bruce, S. 146.
	        
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