104 20
EG“ Kichtamtlicher Teis#rrrn
Kus den Krchiven des belgischen Kolonialministeriums.
Zweite Veröffentlichung.")
Der FSall Stokes 1895—1896.
Im Sommer 1895 erregte die Kunde, daß der
in ganz Ostafrika bekannte englische, aber in
Deutsch-Ostafrika ansässige Händler Heury Stokes
von kongolesischen Offizieren in Manjema ermordet
worden sei, allgemeines Aufsehen, besonders in
England und Deutschland. Stokes war ein pro-
testantischer Irländer, der s. Z. für die prak-
tischen Zwecke der Church Mission, nicht als
eigentlicher Missionar, nach Ujui in Ostafrika ge-
kommen war. Hier hatte er sich bald in Güte
von der Mission getreunt und war durch seine
Landes= und Sprachkenntnisse, namentlich nach-
dem er eine Tochter eines eingeborenen Häupt-
lings geheiratet hatte, einer der bekanntesten und
einflußreichsten weißen Händler geworden, der
auch infolge seiner Zuverlässigkeit gute Be-
ziehungen zum deutschen Gouvernement unter-
hielt, dem er durch die Organisation des Träger-
wesens wesentliche Dienste leistete. Dr. Stuhl-
mann, Langheld und andere alte Ostafrikaner
stellten ihm das beste Zeugnis aus. Er war nach
deren Ansicht ein erfahrener, mehr vorsichtiger
als tollkühner Händler, der lieber Tribut an
feindliche Stämme zahlte, als daß er sich mit
Waffengewalt den Weg durch Afrika bahnte. Im
Jahre 1894 war er an der Spitze einer großen
Handelskarawanc, der zu ihrem Schutze von dem
Gouvernement eine Anzahl von Mausergewehren
nebst Patronen leihweise mitgegeben war, nach
dem Ituri-Lindigebiet marschiert, um dort alte
aus dem Jahre 1892 stammende Schulden bei
den arabischen Händlern einzuziehen. Am Ituri
hörte er von der Angwesenheit kongolesischer
Truppen am Lindi. Er ließ seine Karawanc in
Kwa Mpini am Ituri zurück und machte sich, nur
von einer kleinen Anzahl von bewaffneten Trä-
gern begleitet, auf den Weg, um eine Zusammen-
kunft mit dem belgischen Offizier herbeizuführen,
und um durch dessen Vermittelung die Bezahlung
der ihm von den arabischen Händlern geschuldeten
Beträge zu erlangen. Unterwegs wurde er von
dem ihm entgegengesandten Leutnant Henry über-
rascht und als Gefangener in das Lager des
Kommandant Lothaire am Lindi gebracht. Hier
wurde er vor ein ganz unvorschriftsmäßig zu-
*) Agl.
„D. Kol. Bl.“ 1916, Nr. 6/7, S. 59 ff.
sammengesetztes, nur aus zwei Weißen, dem Kom-
mandanten Lothaire und dem bloß als Dol-
metscher fungierenden Arzt Dr. Michaux, be-
stehendes Kriegsgericht gestellt und nach ganz
kurzen Verhandlungen, über die nicht einmal
ein Protokoll aufgenommen wurde, am 14. Ja-
nuar 1895 von Lothaire zum Tode durch
Erhängen verurteilt. Er war angeklagt, den
arabischen Banden des Kilonga-Longa, Sat-
ben Abedi und Kibonghe, die sich mit dem
Kongostaat im Kriegszustand befanden, von
sich aus oder durch seine Leute zu wieder-
holten Malen Waffen und Munition verkauft und
dadurch den Widerstand der Araber gegen den
Kongostaat verstärkt zu haben. Ferner wurde
ihm vorgeworfen, die Absicht gehabt zu haben,
dem Kibonghe zur Flucht nach Zanzibar zu ver-
helfen. Gegen die ausdrücklichen Bestimmungen
des kongolesischen Gesetzes, die jedem verurteilten
weißen Nichtmilitär die Einlegung der Berufung
bei dem Appellgericht in Boma gestatten, ließ
Lothaire Stokes am frühen Morgen des andern
Tages in aller Stille hängen und dann alsbald
begraben. Die große Stokessche Karawane wurde
in alle Winde zerstreut, die Waren und Elfenbein-
vorräte beschlagnahmt, ein Teil der Leute, soweit
er nicht entfliehen konnte, gefangen und zu füni-
monatlicher Zwangsarbeit verurteilt. Während
dieser Zeit starben von etwa 100 auf diese Weise
gefangenen 70 Mann aus Nahrungsmangel oder
infolge von Mißhandlungen. Das war in großen
Zügen der Tatbestand.
Die sehr energischen Schritte, die der deutsche
Gesandte in Brüssel im Verein mit dem englischen
von Anfang August 1895 an im Auftrag ihrer
Regierungen unternahm, um eine genaue Unter-
suchung des Falles und eine scharfe Verurteilung
des Kommandanten Lothaire wegen der von ihm
begangenen schweren Gesetzesverletzungen herbei-
zuführen, machten bei der Kongoregierung, die
die Geschehnisse seit geraumer Zeit gekannt hatte,
aber sich wohl gehütet hatte, etwas darüber ver-
lauten zu lassen, wie die umfangreichen dortigen