34 9. Der Sturz Tassilos.
Der letzte Agilolfinger, Tassilo III., verließ auf dem vierten Feldzuge gegen
den Herzog Waifar von Aquitanien das Heer des Frankenkönigs Pippin und regierte
seitdem wie ein völlig selbständiger Fürst. Aber unter dem Sohne Pippins, Karl
dem Großen, brach die Katastrophe über ihn herein: er und sein Haus wurden
entsetzt, Bayern wurde eine fränkische Provinz.
„Die Katastrophe Tassilos ist keine Tragödie. Nie ist eine Empörung so
töricht und knabenhaft geplant und ins Werk gesetzt worden als die seine; er
verstand nicht den rechten Augenblick zu ergreifen, in dem sein Abfall Aussicht
auf Erfolg gehabt hätte; er verstand ebensowenig im ungünstigen Augenblick
den Erfolg zu erzwingen, indem er alles aufs Spiel setzte. Wo er hätte
handeln sollen, zögerte er und als seine Sache bereits verloren war, handelte
er.“ „Das schlimmste Urteil über ihn ist seine Begnadigung; denn sie beweist,
daß ihn Karl aufs äußerste gering schätzte.“
So lautet das strengste Verdikt, das über Tassilo III. und seine Regierung
gefällt worden ist. Sehen wir zu, ob das Urteil über die Schuld Tassilos
an seinem Verhängnis ein gerechtes ist. Die oberste Pflicht des Geschicht-
schreibers ist nicht anzuklagen, sondern zu verstehen.
Seit dem Jahre 763 war der Bayernherzog Tassilo tatsächlich unab-
hängig. Aber diese Unabhängigkeit war auf keiner festen Grundlage aufgebaut.
Bayern war zu klein, um aus eigenen Mitteln innerhalb des europäischen
Staatensystems seine Selbständigkeit aufrechtzuerhalten, namentlich einer zu-
greisenden Nachbarmacht gegenüber — wenn man den Franken zum Nachbarn,
aber nicht zum Freunde hatte. Tassilo dankte nur einer besonders günstigen
Konstellation der auswärtigen Verhältnisse die lange Aufrechterhaltung seiner
Unabhängigkeit.
Der Aufstand Aquitaniens gegen das Frankenreich, der Zwist im karolin-
gischen Königshause zwischen den Brüdern Karl (dem Großen) und Karlmann,
der Rückhalt an dem Papste und dem verwandten Langobardenkönige waren,
ich möchte sagen, die Lebensbedingungen der bayerischen Selbständigkeit.
Den Traditionen des karolingischen Hauses entsprach aber das Verhältnis
Bayerns zum Frankenreiche keineswegs. Die Karolinger arbeiteten von Anfang
an, seit Pippin dem Mittleren und Karl Martell, bewußt auf das Ziel hin,
die westgermanischen Stämme, die von Chlodwig und dessen Söhnen in die
Unterordnung unter das Frankenreich gebracht worden waren, in das alte,
wenn möglich in ein noch strafferes Abhängigkeitsverhältnis zurückzuführen.
Karl der Große ist den alten Traditionen seines Hauses nicht bloß tren ge-
blieben, in ihm hat — modern ausgedrückt — der karolingische Imperialismus
seinen festesten und folgerichtigsten Vertreter gefunden. Es ist zu erwarten,
daß er zu diesen Traditionen auch Bayern gegenüber zurückkehren werde von
dem Augenblicke an, da er sich der Fesseln entledigt, die ihm Tassilo gegen-
über die Hände gebunden haben. Hat doch Karl der Große später, nach der
Einverleibung Bayerns ins Frankenreich, ausdrücklich erklärt, er habe nur zu-