02 8 9. Die rechtliche Natur des Reiches.
barkeit. Daß hier der Einzelstaat auf seine individuelle Einwilligung
verzichtet und die Entschließung der Majorität von Bundesrat und
Reichstag als die ihn bindende Norm anerkennt, ist bereits die Schaf-
fung einer höheren, über dem Willen des Einzelstaates stehenden
Willensmacht. Die Gesamtheit der in Art. 4 dem Reiche zugewiesenen
Angelegenheiten läßt sich nicht mehr als eine Auslese einzelner Staats-
aufgaben und Hoheitsrechte auffassen, wie dies vom Zollverein, Post-
verein u. s. w. mit Recht gesagt werden konnte, sondern sie ergreift
den Staat in allen Teilen seiner Lebenstätigkeit. Wenn bei einem
Sozietätsverhältnis das Majoritätsprinzip anerkannt ist, was immer nur
als Ausnahme gelten kann, so ist doch vertragsmäßig der Geltungs-
bereich des Majoritätswillens auf so genau bestimmte Gegenstände oder
Zwecke beschränkt, daß alle denkbaren Beschlüsse der Majorität nur
als Oszillationen innerhalb einer, von allen Gesellschaftern vertrags-
mäßig, d. h. einstimmig festgestellten Linie erscheinen. Im Vergleiche
zu den allgemeinen Lebenszwecken und Lebensaufgaben der Gesell-
schafter sind die Zwecke und Aufgaben der Sozietät untergeordnete
oder wenigstens festbestimmte und ausgesonderte; und innerhalb der
vertragsmäßig feststehenden und nur mit Einstimmigkeit abzuändern-
den Grundlage der Sozietät ist das den Majoritätsbeschlüssen über-
lassene Gebiet ein so geringfügiges, daß jeder Gesellschafter durch den
Abschluß des Gesellschaftsvertrages es für nicht erheblich erklärt, wenn
er mit seiner Ansicht innerhalb dieser Grenzen einmal nicht die Majori-
tät erlangen sollte. Ein naheliegendes Beispiel eines öffentlich recht-
lichen Sozietätsverhältnisses bietet auch in dieser Beziehung der Zoll-
verein, bei welchem seit 1867 das Majoritätsprinzip zwar anerkannt
war, der aber nicht nur auf eine Tätigkeit beschränkt war, die ver-
schwindend klein erscheint gegen die Gesamtheit der Lebensaufgaben
eines Staates, sondern der auch innerhalb dieser Tätigkeit die Majori-
tät nur in den durch den Art. 3 und 7 des Vertrages festgezogenen
Grenzen entscheiden ließ.
Wenn dagegen Art. 4 der Reichsverfassung allein in Nr. 13 das
gesamte Zivilrecht, Strafrecht und Prozeßrecht der Gesetzgebung des
Reiches unterwirft, so ist damit schon dem Reiche eine Kompetenz
zugewiesen, welche jede Lebensaufgabe, jeden Zweig der Tätigkeit, jedes
Recht und jede Pflicht aller Einzelstaaten treffen kann. Jeder Staat
hat schon jetzt, bei dem im Art. 4 normierten Umfange der Reichs-
kompetenz nicht einzelne, festbestimmte, oder gar verhältnismäßig unter-
geordnete Angelegenheiten, sondern sich selbst in seiner Totalität, in
dem innersten Kern seines Wesens, seiner Aufgaben, seiner Zwecke
einer Beschlußfassung unterworfen, die gegen seinen Willen ausfallen
kann. Kein Staat kann ermessen, welche Wege ihn die Reichsgesetz-
gebung — lediglich unter Beschränkung auf die im Art. 4 begrenzte
Kompetenz — in seinen wichtigsten wirtschaftlichen und politischen
Lebensfunktionen führen kann. Bei einer so ausgedehnten Kompetenz