96 8 10. Das Subjekt der Reichsgewalt.
das Reich selbst sein kannals selbständige ideale
Persönlichkeit‘),
Es erhebt sich demnach die Frage, welches ist das Substrat dieser
Person? an welche tatsächlich existierenden Elemente ist die Personi-
fikation rechtlich geknüpft? Hier zeigt es sich von Wichtigkeit, den
Begriff des Bundesstaates fest und ohne Schwanken im Auge zu be-
halten. Im allgemeinen ist jeder Staat die Personifikation einer Volks-
gemeinschaft, und es ist oben bereits bemerkt worden, daß man sich
das Deutsche Reich nicht ohne das deutsche Volk vorstellen kann und
daß das deutsche Volk durch die einheitliche Organisation zu einer
Einheit verbunden ist, welche der einheitlichen und unteilbaren Persön-
lichkeit des Reiches entspricht. Allein die konkrete staatsrechtliche
Gestaltung, welche im Deutschen Reich verwirklicht ist, wird durch
diese unmittelbare Beziehung der Reichspersönlichkeit auf das
Volk nicht zum richtigen Ausdruck gebracht. Es ergibt sich dies aus
dem historischen und :juristischen Vorgang der Reichsgründung und
aus der Struktur der Verfassung. Das deutsche Volk war bei der Er-
richtung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches nicht
eine politisch oder staatsrechtlich unorganisierte Masse, nicht ein Volks-
haufen als Naturprodukt, sondern es war in eine Anzahl von »Staats-
völkern« zerlegt, von denen jedes einzelne seine verfassungsmäßige
Organisation, seine staatsrechtliche Persönlichkeit besaß. Diese Organi-
sation ist nicht behufs Gründung eines gemeinsamen Staatsverbandes
zerstört und aufgelöst worden oder auch nur unberücksichtigt geblie-
ben oder als etwas Nebensächliches behandelt worden. Vom Stand-
punkt der historischen Spekulation aus mag man die Reichsgründung
als eine Tat des deutschen Volkes oder als eine Evolution seiner poli-
tischen Verfassung bezeichnen; die staatsrechtliche Betrachtung muß
sich ausschließlich auf die rechtlich relevanten Vorgänge beschrän-
ken. Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint aber die Gründung
des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches nicht als eine
Tat des deutschen »Volkes«, sondern als eine Tat der im Jahre 1867
resp. 1870 vorhanden gewesenen deutschen Staaten: alle Akte, wel-
1) Im Gegensatz dazu hat sich die Anschauung geltend gemacht, daß den ein-
zelnen deutschen Staaten, als staatsrechtliche Sozietät verbunden gedacht, die Reichs-
gewalt gemeinschaftlich nach Art des condominium pro indiviso zustehe. So nament-
lich Seydel, Kommentar S. 124. Diese Theorie, welche den staatlichen Charakter
des Reiches überhaupt verneint, ist für die Gliedstaaten nur scheinbar günstiger, denn
die Rechte der letzteren sind ihrem Inhalte nach keine größeren, wenn man die
Staaten als Mitglieder einer unauflöslichen Sozietät statt als Mitglieder einer juristi-
schen Person denkt. Andererseits ist das ziemlich verbreitete Verfahren, diese Theo-
rie damit anzugreifen, daß man sie als politisch gefährlich, unpatriotisch und reichs-
feindlich charakterisiert, wissenschaftlich unzulässig und sachlich ungerechtfertigt.
Denn jedes Verhalten eines Einzelstaates, welches nach der bundesstaatlichen Theo-
rie als Verfassungsbruch erscheint, ist nach dieser Theorie ein Vertragsbruch, also
nach beiden Theorien rechtswidrig. Vgl. auch Seydel selbst in seinen staatsrecht-
lichen und politischen Abhandlungen (1895) S. 90 fg.