Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

124 8 12. Die Rechte der Einzelstaaten. 
bayerischen Senat beim Reichsmilitärgericht. Die Behauptung, daß 
es dem Reiche freistehe, diese Anordnungen jederzeit wieder aufzu- 
heben (Hänel, 8 139, Note 11), läuft auf eine Rechtfertigung des 
Rechtsbruchs hinaus. Uebrigens widerlegt sich die Behauptung Hänels 
durch die im Branntweinsteuergesetz vom 24. Juni 1887, $ 47 für die 
süddeutschen Staaten konstituierten Sonderrechte, welche er S. 813 
selbst als solche anerkennt, aber willkürlich und unrichtig als »Modi- 
fikation der verfassungsmäßigen Exemtion von dem Branntweinbe- 
steuerungsrecht des Reichs« bezeichnet‘). 
Zu unterscheiden von Sonderrechten sind aber widerrufliche 
Begünstigungen einzelner Staaten, z. B. der zeitweise Aufschub der 
Einführung von Reichsgesetzen, wie er in den Bündnisverträgen mit 
den süddeutschen Staaten verabredet wurde, oder finanzielle Begünsti- 
gungen auf Widerruf. 
Eine bestimmte Form für die Aufhebung von Sonderrechten ist 
weder durch positives Recht vorgeschrieben, noch aus der Natur der 
Sonderrechte abzuleiten. Es genügt in vielen Fällen ein tatsächlicher 
Verzicht?). Ist das Sonderrecht aber gleichzeitig ein Bestandteil der 
Verfassung, so bedarf es außer der Zustimmung des berechtigten Staates 
auch der für Verfassungsänderungen im Art. 78, Abs. 1 vorgeschrie- 
benen Form. Ein förmlicher Staatsvertrag zwischen dem Reich und 
dem Einzelstaat ist in keinem Falle für erforderlich zn erachten, 
da das Reich wegen seiner souveränen Macht über seine Glieder sich 
stets der Form des Gesetzes bedienen kann’). Es ist nur notwendig, 
daß es bei Ausübung dieser Macht die materiellen Schranken beobachtet, 
welche ihm der Rechtssatz zieht, daß wohlbegründete Rechte nicht 
ohne Zustimmung des Berechtigten aufgehoben werden dürfen. 
In der Zustimmung eines berechtigten Staates zu einem Gesetz, 
welches ein Sonderrecht aufhebt oder beschränkt, ist zugleich ein 
Verzicht auf dieses Sonderrecht enthalten. Wenn daher im Bundes- 
rat die Stimme des berechtigten Staates unter der dem Gesetz zustim- 
menden Majorität sich befindet, so ist dies zur rechtsgültigen Beseiti- 
gung des Sonderrechts genügend‘). Eine Zustimmung des Landtages 
1) Hänel findet S. 821, daß die an der Reichsgründung beteiligten Staatsmän- 
ner Delbrück und v. Friesen sich hinsichtlich der Sonderrechte „in einem 
schweren Irrtum befanden“. Mutato nomine de te fabula narratur. 
2) So z. B. wenn Württemberg auf seinen Eisenbahnen den Einpfennigtarif ein- 
führen oder der Post dieselben Vorrechte beilegen würde, die ihr nach dem Reichs- 
postgesetz zustehen. 
3) Uebereinstimmend Meyer, Staatsrecht $ 164, III. Die entgegengesetzte An- 
sicht vertritt Hänel, Studien S. 236 ff, dem Löning S. 347 und Zorn ]J, S. 125 
beistimmen, soweit diese Sonderrechte in der Form des Vertrages begründet worden 
sind, d.h. soweit sie in Bestimmungen der Schlußprotokolle enthalten sind, die nicht 
in die jetzige Redaktion der Reichsverfassung Aufnahme gefunden haben und durch 
8 3 des Publikationsgesetzes zur Reichsverfassung in Geltung erhalten worden sind. 
4) Es wurde auch praktisch demgemäß verfahren, als das Reichspostgesetz vom 
28. Oktober 1871 das Vorrecht der Post auf ausschließliche Beförderung politischer
	        
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