Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

156 8 16. Die Rechte der Reichsangehörigen. 
Das staatsbürgerliche Recht, dem Staat auch tatsächlich angehören 
zu dürfen, beschränkt sich aber nicht auf das bloße Existieren in dem 
Gebiet, in der Luft des Heimatstaates; sondern es erhält seinen be- 
deutungsvollen Inhalt in dem Anspruch, daß die Fürsorge des Staates 
für Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und zur Förderung der all- 
gemeinen Wohlfahrt auch jedem zuteil werde, d. h. daß die bestehen- 
den Gesetze, welche für ihn Rechte begründen oder seinem Interesse 
förderlich sind, auch wirklich zu seinen Gunsten angewendet werden. 
Im Einzelnen läßt sich dieses Recht ebensowenig spezialisieren, wie 
die Gehorsamspflicht; beide empfangen gleichmäßig ihren Inhalt durch 
die Tätigkeit des Staates selbst. Dem Begriff des Bundesstaates als 
eines zweifach gegliederten Staates gemäß ist dieses Recht sowohl ge- 
gen den Einzelstaat als gegen das Reich gerichtet, aber die Grenze 
zwischen dem Reichsbürgerrecht und dem Staatsbürgerrecht läßt sich 
auch hier nicht anders fixieren, wie bei der Untertanenpflicht, d. h. 
lediglich durch den Hinweis auf die Kompetenzgrenze. So wie die 
Einzelstaaten und das Reich auf allen Gebieten gemeinsam tätig sind 
und zusammenwirken und sich in ihrer Kompetenz gegenseitig ablösen, 
so wie sie zusammen die Staatsaufgabe erfüllen, so richtet sich 
auch das Recht des einzelnen Staatsbürgers, von dieser Fürsorge nicht 
ausgeschlossen zu werden, bald gegen den Einzelstaat, bald gegen das 
Reich. In letzterer Beziehung kann man als Betätigung dieses Rechts 
oder als Mittel seiner Geltendmachung ansehen: die Appellation an 
die Reichsgerichte, die Beschwerdeführung bei den Reichsbehörden 
und die Einreichung von Petitionen bei dem Bundesrate und dem 
Reichstage. 
In einer Hinsicht hat dieses Recht einen prägnanten Ausdruck in 
der Reichsverfassung gefunden. Nach der Einleitung zur Reichsver- 
fassung gehört zu den Aufgaben des Reiches der Schutz des Rechtes 
in dem Bundesgebiet; die Handhabung dieses Schutzes ist indes zum 
größten Teile den Einzelstaaten überlassen. Wenn aber ein einzelner 
Staat dieser fundamentalsten Aufgabe nicht nachkommt und der Fall 
einer Justizverweigerung eintritt, so liegt es nach Art. 77 der Reichs- 
verfassung dem Bundesrate ob!), Beschwerden anzunehmen und zu 
prüfen, 
»und darauf die gerichtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die 
zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken«. 
Dieser Verfassungssatz ist die Ergänzung zu Art. 3, Abs. 6, welcher 
dem Deutschen den Schutz des Reiches dem Auslande gegenüber 
verheißt, und beide zusammen bilden den Inhalt des staatlichen Rechts 
des Reichsbürgers auf Schutz, des Korrelats seiner Pflicht zur Treue. 
3. Nach einer weitverbreiteten Ansicht begründet die Staatsange- 
hörigkeit den Anspruch auf Anteilnahme an dem Verfassungsleben des 
Staates, oder wie man im Anschluß an die französische Terminologie 
1) Siehe unten. $ 29, II.
	        
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