Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

276 S$S 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrates. 
Da diese Kompetenz des Bundesrates nicht auf Art. 76 der Reichs- 
verfassung gegründet ist, sondern unabhängig von diesen Verfassungs- 
bestimmungen besteht, so ist sie auch nicht an die im Art. 76 aufge- 
stellten Voraussetzungen geknüpft. Sie kann also nicht dem Bundesrat 
durch ein Landesgesetz entzogen werden, welches den Streit einer 
Behörde, z. B. dem Reichsgericht, zur Entscheidung zuweist; denn das 
Landesgesetz kann die Rechte des Reiches nicht willkürlich schmälern 
oder verändern. Die Zuständigkeit des Bundesrates ist ferner nicht 
dadurch bedingt, daß ein Teil seine Entscheidung anruft. Der 
Bundesrat kann vielmehr die Initiative ergreifen, denn es handelt sich 
nicht nur um das Interesse des Prätendenten, sondern um das eigene 
Interesse des Reiches!). 
8 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrates. 
Die hier in Betracht kommenden Rechtssätze sind teils in der 
Verfassung selbst enthalten, teils in der Geschäftsordnung für 
den Bundesrat des Deutschen Reiches formuliert. Dieselbe ist 
in der Sitzung des Bundesrates vom 27. Februar 1871 beschlossen 
worden. Gesetzliche Kraft kommt derselben nicht zu; sie ist daher 
auch im Reichsgesetzblatt nicht verkündet worden, und sie unterliegt 
der Abänderung und Ergänzung durch Bundesratsbeschluß. Eine Revi- 
lich. Durch eine Mitwirkung des Reichstages würden nur neue Schwierigkeiten ent- 
stehen , wenn der Bundesrat und der Reichstag den Streit in verschiedenem Sinne 
erledigen wollen. Eine solche Entscheidung kann nicht von zwei, von einander völlig 
unabhängigen Körperschaften getroffen werden, von denen jede auf ihrer Ansicht 
bestehen kann. Die Bedenken, ob der Bundesrat zur Entscheidung solcher Fragen 
geeignet ist, welche von Binding a.a.O. und anderen erhoben werden, sind politi- 
sche Erwägungen de lege ferenda; sie finden übrigens in verstärktem Maße Anwen- 
dung auf eine Mitwirkung des Reichstags, der zur Entscheidung von Rechtsfragen 
völlig ungeeignet ist. 
I)InderBraunschweigischen Regentschaftsangelegenheit ist der Bundes- 
rat auf den Antrag Preußens eingeschritten. In diesem, vom Fürsten Bismarck unter- 
zeichneten Antrage wird zwar Art. 76 der RV. in Bezug genommen, die Zuständig- 
keit des Bundesrats aber und sein Recht, auch ohne Anrufen eines Teiles einzu- 
schreiten, aus „dem Geiste der Verfassung“ hergeleitet. Uebrigens mag 
darauf hingewiesen werden, daß sogar im ehemaligen Deutschen Bunde die Bundes- 
versammlung befugt war, die Tronfolge in den Bundesstaaten und die Wahrung der 
agnatischen Rechte zum Gegenstande ihrer Beschlußfassung zu machen. So ergingen 
im Jahre 1830 nach der Vertreibung des Herzogs Karl von Braunschweig der Beschluß 
vom 2. Dezember 1830, Protokoll S.104. Vgl. Klüber, Oeffentl. R. des D. B. S. 360 fg.; 
ferner der Beschl. vom 17. September 1846 in der Holstein’schen Sache; vgl. v. Kal- 
tenborn, Geschichte der D. Bundesverhältn. Bd. 1, S. 485; sowie die Beschlüsse 
des Bundesrats nach dem Tode König Christians IX. von Dänemark, betreffend die 
Thronfolge in Holstein. Zachariä, Staatsr. II, S.630. Wenn bei einem so locker 
geknüpften Verhältnis, wie es der Deutsche Bund war, die Thronfolge in den zum 
Bunde gehörenden Staaten wegen ihres Interesses für die Gesamtheit als eine Bun- 
desangelegenheit angesehen wurde, so muß dies auch für die durch die Reichsver- 
fassung hergestellte, weitaus engere bundesstaatliche Verbindung gelten.
	        
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