Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

346 8 36. Formelle Ordnung der Reichstagsgeschäfte. 
lassen und, wenn eine störende Unruhe auf der Tribüne entsteht, an- 
ordnen, daß alle, die sich zur Zeit darauf befinden, die Tribüne räumen 1) 
b) »Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffent- 
lichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verantwortlichkeit 
frei.« Reichsverfassung Art. 22, Abs. 2; Reichsstrafgesetzbuch 8 12. 
Im Falle einer Anklage ist vom Richter tatsächlich festzustellen, ob 
ein Bericht »wahrheitsgetreu« ist; auszugsweise Berichte über die Ver- 
handlungen können in so tendenziöser Art verfaßt sein, daß sie, ob- 
gleich sie nichts enthalten, was nicht wirklich im Reichstage gesprochen 
oder geschehen ist, dennoch den Sinn der getanen Aeußerungen durch 
Herausreißen aus dem Zusammenhange fälschen und deshalb als 
wahrheitsgetreu nicht zu erachten sind. Noch viel weniger kann die 
Mitteilung einer einzelnen Rede, eines zur Verlesung gekommenen 
Aktenstückes oder eines Satzes aus einer Rede als ein »Bericht über 
Verhandlungen« erachtet werden?). 
Der Satz der Verfassung schließt nicht nur eine gerichtliche Ver- 
folgung, sondern »jede Verantwortlichkeit« aus, mithin auch eine dis- 
ziplinarische, wenn der Bericht von einem Beamten verfaßt ist. Er 
bezieht sich ferner auf jede Art von Berichten, also insbesondere auch 
auf mündliche Berichte, welche in öffentlichen Versammlungen er- 
stattet werden. Seine wichtigste Anwendung aber findet er in Ansehung 
der durch die Presse verbreiteten Berichte. | 
Nach vielen Verfassungen ist es dem Landtage überlassen, durch 
einen Beschluß die Oeffentlichkeit auszuschließen; so z. B. auch durch 
die preußische Verfassungsurkunde Art. 79. Die Reichsverfassung hat 
eine solche Bestimmung nicht. Die Geschäftsordnung 8 36 sucht dies 
zwar nachzuholen, indem dieser Paragraph fast wörtlich dem Art. 79 
der preußischen Verfassungsurkunde entnommen ist; gegenüber der 
bestimmten Vorschrift des Art. 22 der Reichsverfassung aber ist diese 
Bestimmung der Geschäftsordnung rechtsunwirksam. Es steht 
zwar nichts entgegen, daß sich die Reichstagsmitglieder zu einer (Pri- 
vat-) Besprechung unter Ausschluß der Oeffentlichkeit versammeln, 
der staatsrechtliche Charakter einer Reichstagsverhandlung 
kommt einer solchen Besprechung aber nicht zu?). Auch aus der 
1) Geschäftsordnung $ 62—64. 
2) Vgl. die Präjudikate des preußischen Obertribunals über den entsprechenden 
$ 38 des preußischen Preßgesetzes vom 12. Mai 1851 bei Hiersemenzell, 
S. 85 ff.; ferner Oppenhoff, Reichsstrafgesetzbuch Note 6.u.7 zuS 12; v. Liszt, 
Reichspreßrecht 8 45; Binding, Handb. des Strafrechts I, 8 12; Fuldin Hirths 
Annalen 1887, S. 251 ff.; Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch $ 12, Note 6; 
Sladecek, Ueber die Immunität der parlamentarischen Reden und der parlamen- 
tarischen Berichterstattung in der Zeitschr. für die gesamte Strafrechtswissenschaft 
Ba. 16, S. 127 ff.; Hubrich, Die Immunität der parlamentarischen Berichterstat- 
tung in Hirths Annalen 1897, S. 1 ff., besonders S. 46 ff.; Seydel, Kommentar S. 201. 
3) Vgl. Hiersemenzel S. 85; Seydel, Annalen 1880, S. 417 und Kom- 
mentar S. 198 fg.; Binding a. a. O. Anm. 2; Zornl, S. 244; Olshausena.a.0.
	        
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