Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

356 $ 37. Schutz der Reichstagsmitglieder. 
daß die einzelnen Mitglieder des Reichstages, welche davon betroffen 
werden, ihre Zustimmung zu erteilen brauchten oder Anspruch auf 
Entschädigung hätten. Die Tendenz aller dieser Vorschriften ist auch 
in ihrem Endziel nicht, den Mitgliedern des Reichstages eine Rechts- 
wohltat zu erweisen, sondern die ungestörte Tätigkeit eines für das 
Verfassungsleben des Reiches so wichtigen Organes, wie es der Reichs- 
tag ist, zu sichern'); nur kommt das Mittel, durch welches dieses Ziel 
erreicht wird, unter Umständen den einzelnen Reichstagsmitgliedern 
zu statten. 
Die hierher gehörenden Vorschriften sind folgende; 
1. »Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen 
seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes ge- 
tanen Aeußerungen gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder sonst 
außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden.« 
Reichsverfassung Art. 30°). 
Es ist dies ein allgemeiner Grundsatz des Strafrechts; er kehrt 
daher auch in Anwendung auf die Mitglieder der Landtage der Einzel- 
staaten im Reichsstrafgesetzbuch $ 11 wieder. Er läßt ausdrücklich 
die geschäftsordnungsmäßige Disziplin innerhalb des Reichstages 
(Ordnungsruf) zu°®). Wenn der Wortlaut des Artikels untersagt, ein 
1) Dies wird auch ganz richtig hervorgehoben v. Rönne, Preußisches Staats- 
recht ], 2, S. 436 fg. (3. Aufl.). 
2) Eine Zusammenstellung der älteren Literatur über die strafrechtliche Unver- 
folgbarkeit der Parlamentsmitglieder wegen ihrer berufsmäßigen Aeußerungen findet 
sich bei v. Rönne, Preußisches Staatsrecht $ 129, Note 1 (3. Aufl., I, 2, S. 428). 
Vgl. ferner v. Bar, Die Redefreiheit der Mitglieder der gesetzgebenden Versamm- 
lungen, Leipzig 1868, und Schulze, Preußisches Staatsrecht II, S. 165 ff. In neue- 
ster Zeit ist diese Materie wiederholt zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung 
gemacht worden. Vgl. Schleiden, Die Disziplinar- und Strafgewalt parlamenta- 
rischer Versammlungen über ihre Mitglieder, Berlin 1879; Heinze, Die Straflosig- 
keit parlamentarischer Rechtsverletzungen, Stuttgart 1879; v. Kißling, Die Unver- 
antwortlichkeit der Abgeordneten und der Schutz gegen Mißbrauch derselben, Wien 
1882 (2. Aufl. 1885); Fuld, Die strafrechtliche Immunität der Reichstagsmitglieder. 
Im Gerichtssaal Bd. 35 (1883), S. 529 ff. und im Archiv für öffentliches Recht Bd. 4, 
S. 341 ff.; Binding, Handb. des Strafrechts 1, $ 141, S. 671 ff; Gareis in der 
Zeitschr. für die ges. Strafrechtswissenschaft 1887, S. 683 ff.; Weismann, Die straf- 
prozessuale Privilegierung gesetzgebender Versammlungen 1888; Seidler, Die Im- 
munität der Mitglieder der Vertretungskörper nach österreichischem Recht 1891; 
E:. Sontag, Der besondere Schutz der Mitglieder des deutschen Reichstages etc. 
gegen Strafverfolgung und Verhaftung, 1895; L. Rossi, L’Immunitä dei deputati. 
Bologna 1897; Schwedler, Parlamentar. Rechtsverletzungen nach Deutschem 
Reichsrecht, Breslau 1898 (Heft 16 der strafr. Abhandlungen, herausgeg. von Beling); 
Hubrich, Die parlamentar. Redefreiheit und Disziplin, Berlin 1899; dazu Otto 
Mayer, Jurist. Literaturbl. 1899, S. 73; v. Muralt, Die parlamentar. Immunität, 
Zürich 1902; v. Bar, Gesetz und Schuld im Strafrecht Bd. 1, S. 237 ff. (1906). Vgl. 
auch das Urteil des Reichsgerichts vom 5. März 1881 (Reger ], S. 280 ff.) und Ols- 
hausen zu $ 11 des Strafgesetzbuchs. 
3) Ein Gesetzentwurf „betreffend die Strafgewalt des Reichstags über seine 
Mitglieder“ ist im Jahre 1879 dem Reichstage vorgelegt (Drucks. Nr. 15), von dem-
	        
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