Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

VI Aus dem Vorwort zur ersten Auflage. 
sondern nach den Grundsätzen des bestehenden Rechts entschieden 
werden müssen. Nachdem die Tat der Neugestaltung Deutschlands 
vollbracht ist, entsteht das Bedürfnis, sich zum Bewußtsein zu bringen, 
worin diese Tat bestanden hat, welchen Erfolg sie bewirkt hat. 
Die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist eine Aufgabe der Rechts- 
wissenschaft. Mit einer bloßen Zusammenstellung der Artikel der 
Reichsverfassung und der Reichsgesetze unter gewissen Ueberschriften 
kann sie nicht gelöst werden; ebensowenig durch die Hinzufügung von 
Stellen aus den Motiven der Gesetzesvorlagen und aus den Verhand- 
lungen des Reichstages, welche meistens doch nur Erwägungen de 
lege ferenda enthalten. Es handelt sich vielmehr um die Analyse der 
neu entstandenen öffentlich-rechtlichen Verhältnisse, um die Feststellung 
der juristischen Natur derselben und um die Auffindung der allgemei- 
neren Rechtsbegriffe, denen sie untergeordnet sind. Man darf sich 
über diese Aufgabe nicht mit der Versicherung hinwegsetzen, daß die 
Verfassung des Deutschen Reiches so eigenartig sei, daß sie unter keine 
der herkömmlichen juristischen Begriffskategorien passe. Eigentüm- 
lich ist der deutschen Verfassung, sowie jeder konkreten Rechtsbildung, 
nur die tatsächliche Verwendung und Verbindung der allgemeinen 
Rechtsbegriffe,; dagegen ist die Schaffung eines neuen Rechtsinstitutes, 
welches einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt 
nicht untergeordnet werden kann, gerade so unmöglich wie die Erfin- 
dung einer neuen logischen Kategorie oder die Entstehung einer neuen 
Naturkraft. Es kann schwierig sein, bei einer neuen Erscheinung im 
Rechtsleben zu erkennen, aus welchen juristischen Elementen das 
rechtliche Wesen derselben zusammengesetzt ist; aber die wissenschaft- 
liche Behandlung des Rechts besteht eben darin, daß sie die Erschei- 
nungen des Rechtslebens nicht nur beschreibt, sondern erklärt und 
auf allgemeine Begriffe zurückführt. 
Mit der Auffindung der allgemeinen Prinzipien ist die Aufgabe noch 
nicht vollständig gelöst; es müssen auch die, aus den gefundenen 
Prinzipien sich ergebenden Folgerungen entwickelt werden und es muß 
ihre Uebereinstimmung mit den tatsächlich bestehenden Einrichtungen 
und den positiven Anordnungen der Gesetze dargetan werden. 
Bei dem Versuch, das Staatsrecht des Deutschen Reiches in der 
angegebenen Weise zu erörtern, zeigt sich sofort der innere, unauf- 
lösliche Zusammenhang des Verfassungsrechts mit den übrigen Ge- 
bieten der Rechtswissenschaft, namentlich mit dem Strafrecht, 
und es macht sich die Tatsache bemerkbar, daß ein erheblicher Teil 
des Staatsrechts nicht in der Verfassung, sondern in dem Strafgesetz- 
buch seinen gesetzlichen Ausdruck gefunden hat. Die staatsrechtliche 
Seite der Strafgesetze erfordert um so eingehendere Berücksichtigung, 
als in der bisherigen Literatur die Publizisten gewöhnlich den Straf- 
rechtslehrern, die Kriminalisten den Staatsrechtslehrern sie überlassen 
haben. Es läßt sich ferner die Unterscheidung des Reichsstaatsrechts
	        
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