g 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 65
souveränen Staat in das Auge faßt, um den logischen Begriff des Staates
zu abstrahieren und mithin die Souveränität als ein wesentliches Mo-
ment dieses Begriffes hinstellt. So wenig man bestreiten kann, daß
:n der neueren staatsrechtlichen Theorie diese Begriffsbestimmung des
Staates bis vor Kurzem die fast ausschließlich herrschende gewesen
ist, so gewiß ist es andererseits, daß der Sprachgebrauch diese doktri-
näre Definition vom Staate widerlegt. Zur Zeit des ehemaligen Deut-
schen Reiches hat man nicht angestanden, die nicht souveränen deut-
schen Landesherrschaften Staaten zu nennen); die Mitglieder der
amerikanischen Union heißen Staaten; die von der Türkei abhängigen
oder abhängig gewesenen, nicht souveränen politischen Gebilde be-
zeichnete man als Staaten’).
Nicht ohne Grund ist hiergegen eingewendet worden?), daß der
Sprachgebrauch allein nicht maßgebend sei. Für die wissenschaftliche
Behandlung ist es allerdings erforderlich, die begrifflichen Merk-
male festzustellen. Es ist daher die Anforderung nicht abzulehnen,
die Frage zu beantworten, welches Kriterium für den Staat
übrig bleibe, wenn man die Souveränität für nicht wesentlich
erklärt und durch welches durchgreifende Merkmal sich der »nicht-
souveräne Staat« von Provinzen, Kreisen, Gemeinden u. dgl. unter-
scheide. Bereits in der ersten Auflage dieses Werkes (I, S. 106) ist
dieser Unterschied darin gefunden worden, daß die Staaten eine öffent-
lich rechtliche Herrschaft krafteigenen Rechts ha-
ben, nicht durch Uebertragung, nicht als Organe, deren sich eine
höhere Macht zur Erfüllung ihrer Aufgaben, zur Durchführung ihres
Willens bedient, sondern als selbständige Rechtssubjekte mit eigener
Rechtssphäre, mit eigener Willens- und Handlungsfreiheit. Die neueste
Literatur hat gezeigt, daß dies zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt
ist, weil die hier als klar und allgemein verständlich vorausgesetzten
Begriffe dies keineswegs sind.
1) Zahlreiche leicht zu vermehrende Beläge gibt Brie, Bundesstaat I, S. 28 fg.
(Note 17—26); für die ältere Zeit ist auch zu vergleichen Limnäus, Jus public.
imp. Romani I, 1, 10; I, 7, 65 ff.; IV, 7 u. A. In der Terminologie des Reichsrechts
wurde der Ausdruck status ursprünglich gerade im Gegensatz zu der souveränen
Reichsgewalt gebraucht.
2) Es fehlt auch in der Literatur des deutschen Staatsrechts nicht an gewich-
tigen Stimmen, welche die Souveränität nicht zu den wesentlichen Merkmalen des
Staatsbegriffes zählen. Vgl. v. M ohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaft (2. Aufl.)
S. 86; v. Gerber, Grundzüge S. 22; v. Pözl im Staatswörterbuch von Bluntschli
und Brater II, S. 285; G. M eyer, Erörterungen S. 4fg. und Staatsrecht, $ 1 und
S14; Schulz e, Deutsches Staatsrecht I, S. 26; Jellinek, Staatenverbindungen
S. 37 f. u. Staatsfragmente S. 11 fg.; Liebe, Staatsrechtliche Studien in der Zeit-
„it für Staatswissenschaft, Bd. 38, S. 641; Rosin in Hirths Annalen 1883, S. 273 ff.;
schrift Grünhuts Zeitschr. XI, S. 94 ff. (und die dort Note 21 zitierten Völkerrechts-
Ren steller); Mej er, Einleitung (2. Aufl.) S. 23ff.; Stöber, Archiv ], S. 637 ff.;
M, Allgem. Staatslehre S. 21 f., 70 ff.
3) Bake S. 170 fg.; Zorn in Hirths Annalen 1884, S. 459; Brie a.a.0. S. 94;
°Sin in Hirths Annalen 1883, S. 267, 174; Borel S. 76.