g 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 69
in der rech tlichen Macht der Obrigkeit über den Untertan, in
der rechtlich anerkannten Gewalt über ihn, kraft deren derselbe
gezwungen wird, dem an ihn ergangenen Befehl zu gehorchen.
In der Familie, dem Prototyp des Staates und dem Urquell aller öffent-
lichen Rechte, hat sich noch ein geringer Rest ihres ehemals staatlichen
Charakters in der väterlichen und eheherrlichen Gewalt erhalten; trotz-
dem dies nur ein schwacher Abglanz des ursprünglichen Wesens ist,
so hat es doch die spezifische Natur desselben bewahrt. Aus demselben
Grunde konnte im Mittelalter das Lehnswesen das maßgebende Prinzip
für die Struktur des Staates abgeben, weil die Rechte des Lehnsherrn
keine Forderungsrechte, sondern Hoheitsrechte waren. Im heutigen
Recht gibt es — von dem in der familienrechtlichen Gewalt enthal-
tenen, geringfügigen Rest abgesehen — keine Privatuntertänigkeit und
keine Privatgewalt; der Staat allein herrscht über Menschen. Es
ist dies sein spezifisches Vorrecht, das er mit Niemandem
teilt. Sein Wille hat allein die Kraft, den Willen der Individuen zu
brechen, über Vermögen, natürliche Freiheit und Leben derselben zu
verfügen ').
Nur darf man sich nicht dem Irrtum hingeben, als ob der Staat
seine Aufgabe lediglich durch Ausübung seiner Herrschaftsrechte
verwirklichen könnte; er macht von denselben vielmehr nur so weit
Gebrauch, als es notwendig oder nützlich erscheint?).. Der weit über-
wiegende Teil der staatlichen Tätigkeit vollzieht sich ohne Anwendung
von Herrschaftsrechten?). Man darf also nicht den Satz, daß das Herr-
schen den spezifischen Inhalt der Staatsgewalt bilde, d. h. einen Inhalt,
der bei keinem anderen Rechtsverhältnis wieder-
kehrt, in der Art mißverstehen, daß das gesamte Walten des Staates
»Herrschaft« sei‘). Man raubt dadurch dem Begriff »Herrschen« seine
1) Derselben Auffassung hat nunmehr auch Jellinek sich angeschlossen. Er
sagt (Gesetz und Verordnungen 1887, S.191): „Die Macht des unbedingten Gebietens
hat nur der Staat. Nur er kann herrschen und alle Herrschaft im Staate kann nur
von ihm ausgehen. Die Macht der dem Staate Unterworfenen, der Einzelnen und
der Verbände, ist ein Wollendürfen, die Herrschermacht ein Wollenkönnen. Alle
Rechtsmacht der dem Staate Subjizierten ist durch den Staat bedingt, und eben durch
diese Bedingung unterscheidet sie sich von der Herrschermacht“. Siehe ferner An-
schütz S. 464 fg.
2) Uebereinstimmend Rosin a. a. O. S. 296.
3) Vgl. unten bei der Lehre von der Verwaltung. Wenn Gierke in Schmollers
Jahrb. Bd. 7, S. 1130 ff. mir vorwirft, daß sich nach meiner Ansicht „allein in den
Verhältnissen von Herrschaft und Unterwerfung der Inhalt der staatsrechtlichen Wil-
lensdeterminationen erschö pft“, so ist dies vollkommen unbegründet und wird
durch jeden Abschnitt dieses Buches widerlegt.
4) Dieses Mißverständnis ist mit besonderem Eifer von Z orn, Staatsrecht I,
s 14 und Annalen 1882, S. 85 ff. aufrecht erhalten worden. In der 2. Aufl. I, S. 62,
um. 5 hat er aber seine Ansicht dahin berichtigt, daß der Staat von ‚seiner Herr-
schaft Gebrauch macht, soweit es erforderlich ist. Vgl. auch meine Ausfüh-
tung ım Archiv für öffentliches Recht II, S. 158 ff.