Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

76 8 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 
nen angeschlossen. Zorn dagegen hat sie auch in der zweiten Auf. 
lage seines Staatsrechts festgehalten. Bei dieser Auffassung besteht 
kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Bundesstaat und dem 
Einheitsstaat '). 
Zorn spricht dies unumwunden aus; er definiert den Bundesstaat 
als einen pleonarchisch organisierten (Einheits-)Staat ?. Obwohl nun 
aber Zorn mit größtem Nachdruck wiederholt, daß die Gliedstaaten 
keine Staaten sind, sondern nur so heißen (z. B. S. 84, 85) unter- 
läßt er zu sagen, was sie sind’) Denn wenn sie bloße Verwal- 
tungsdistrikte oder Selbstverwaltungskörper des (pleonarchischen) Ein- 
heitsstaates wären, so könnten sie nicht Mitgliedschaftsrechte 
an dem letzteren haben, die ihnen Zorn gleichwohl beilegt. Er erklärt 
hinsichtlich des Deutschen Reiches, daß die »25 staatlichen Individu- 
alitäten« in demjenigen rechtlichen und faktischen Zustande, in wel- 
chem sie sich am 1. Juli 1867 beziehungsweise 1. Januar 1871 befanden, 
als Substrat der Reichsgewalt unzweifelhaft vorausgesetzt werden. Er 
bestreitet also, daß sie Staaten sind, schreibt ihnen aber gleichzeitig 
„staatliche Individualitäten« zu. Ja, er geht sogar so weit zu behaup- 
ten, daß jede Veränderung dieses Bestandes an »Bundesgliedern« als 
Untergang des Bundesstaates und Gründung eines neuen Bundesstaates 
anzusehen sei‘). Er macht sich keine Gedanken darüber, daß seiner 
eigenen Theorie zufolge bei der Reichsgründung 25 Staaten gar nicht 
vorhanden waren, sondern nur der Norddeutsche Bund und die süd- 
deutschen Staaten. Er gibt keine Erklärung, wie in den durch den 
Eintritt in den Norddeutschen Bund und das Reich »begrifflich« unter- 
gegangenen und vom Norddeutschen Bund oder Reich als Körper- 
schaften, die keine Staaten sind, »neu geschaffenen« Bundesgliedern 
1) Auch Tezner in Grünhuts Zeitschr. Bd. 21, S. 110 ff. (1893) erkennt nur 
einen graduellen Unterschied hinsichtlich der Machtbeteiligung zwischen Gliedstaaten 
und Gemeinden an; ein eigenes, d. h. unabgeleitetes, nur in sich selbst ruhendes 
Herrschaftsrecht schreibt er nur dem Bundesstaat selbst zu. Die Bezeichnung der 
Bundesglieder als Staaten sei nur eine „historische Reminiszenz“. Es fehlt bei dieser 
Auffassung an einem begrifflichen Unterscheidungsmerkmal zwischen Bundesstaat und 
dezentralisiertem Einheitsstaat, sowie zwischen Gliedstaat und autonomer Provinz. 
Daß die von Tezner als wesentlich für den Gliedstaat bezeichneten Rechte, näm- 
lich eigene formelle Gesetzgebung, Anteil an der formellen Bundesgesetzgebung 
und Anteil an der Militärhoheit, nur symptomatische Bedeutung haben, nicht das 
Wesen selbst treffen, ist offenkundig. 
2) Siehe oben S. 61. Ihm schließt sich Borel im wesentlichen an; jetzt auch 
Le Fur, dessen Modifikationen der Zornschen Theorie ich für keine Verbesserungen 
derselben halte. 
3) Le Fur S. 679 charakterisiert sie als „collectivites publiques d’une nature 
particuliere, qui tiennent & la fois de la nature de la province autonome et de celle 
du citoyen d’une r&publique; elles se distinguent des autres collectivit&es non sou- 
veraines en ce qu’elles sont appeldes & prendre part & la formation de la volonte de 
l’Etat, participant ainsi & la substance m&me de la souverainete federale.“ Die Un- 
haltbarkeit dieser Ansicht ist bereits oben S. 61 dargetan worden. 
4) Staatsrecht I, S. 93 ff.
	        
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