78 8 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten.
4. Mit großer Einmütigkeit wird als wesentlich für den Bundes.
staatsbegriff das Erfordernis aufgestellt, daß die obrigkeitlichen Hoheits.
rechte der Zentralgewalt unmittelbar gegen die einzelnen Bürger
gerichtet seien, nicht gegen die Gliedstaaten und durch deren Vermitt.
lung gegen die Individuen'). Dies ist insofern richtig, als jeder Staat
ein Volk voraussetzt, da er seinem Wesen nach eben die rechtliche
Ordnung einer Volksgemeinschaft darstellt. Man kann sich einen
Bundesstaat nicht ohne die letztere denken und so wie das Reich als
Person (Herrschaftssubjekt) eine begriffliche Einheit ist, so wird auch
durch diese einheitliche staatliche Organisation das Volk, soweit es von
derselben ergriffen worden ist, zu einer Einheit verbunden?) An-
dererseits würde man aber den Gliedstaaten ihren staatlichen Charakter
rauben, wenn man bestreiten wollte, daß sie Untertanen haben, daß
ihnen gegen dieselben Hoheitsrechte zustehen; denn ein Staat ohne Unter-
tanen ist undenkbar. Die Unterordnung der einzelnen Staaten unter
das Reich kann man sich nicht anders vorstellen, als mit ihren Ge-
bieten und Untertanen; durch die Einzelstaaten wird die Bevölkerung
zu ebenso vielen Staatsvölkern gegliedert und nur in dieser ver-
fassungsrechtlichen Gliederung bilden sie die Einheit des
Reichsvolkes °).
Die Spitze dieser Deduktion richtet sich gegen die Auffassung des
Bundesstaates, wonach der letztere als eine den Einzelstaaten neben-
geordnete, auf gewisse staatliche Aufgaben beschränkte und von den
Einzelstaaten abgelöste Staatsordnung erscheint, so daß der einzelne
Bürger in gewissen Beziehungen der Bundesgewalt, in anderen der
Einzelstaatsgewalt, in keiner aber beiden zugleich unter-
worfen sei und daß eine Unterordnung der Einzelstaaten unter die
1) Darüber besteht unter den neueren Schriftstellern ein so großes Einverständ-
nis, daß es unnötig erscheint, die Aeußerungen derselben hier zu verzeichnen. Nur
v. Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften (2. Aufl.) S. 376, Note 9, Reichsver-
fassung S. 29, Nr. 1 und v. Holtzendorff, Enzyklopädie der Rechtswissenschaft
I, S. 792 (vgl. Brie, Bundesstaat S. 174) erklären die unmittelbare Herrschaft der
Zentralgewalt über die einzelnen Staatsangehörigen für nicht wesentlich und
charakteristisch für den Bundesstaatsbegriff. Vgl. auch Gierke in Schmollers Jahrb.
S. 1162, Note 2; Rümelin.a.a. O. S.201 und jetzt auch Zorn], -S. 73 (2. Aufl.)
2) Diese Einheit des deutschen Volkes findet besonders im Reichstag einen staats-
rechtlichen Ausdruck.
3) Man hat die Frage aufgeworfen, ob sich die Begriffskategorie „Staat“ von
einer Vielheit von Menschen auf eine Vielheit von Korporationen übertragen lasse,
und man hat diese Frage verneint. v. Martitz, Tübinger Zeitschrift 1867, S. 567,
Brie, Grünhuts Zeitschrift XI, S. 143 und Staatenverbindungen S. 113 fg. Gewiß
ist diese Frage, so gestellt, zu verneinen. Es können nicht beliebige Kor
porationen sein; ein Staat kann nicht aus Aktienvereinen oder Kirchen oder Hilfs
kassen gebildet werden. Die Korporationen müssen kongenialer Art, d.h. s elbst
Staaten sein, also Untertanen, Gebiet, Herrschaftsrechte haben. Dann fehlt es auch
dem über diesen Staaten stehenden Oberstaat nicht an den für den Staatsbegrif
wesentlichen Merkmalen.