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schen Unterschied nicht befriedigt zu sein; denn wenige Seiten darauf
(S. 462) sagt er: »Man wird das Unterscheidungsmerkmal
von Staatenbund und Bundesstaat in die Selbstgenugsamkeit, die Selb-
ständigkeit, die Unabhängigkeit des Bundes gegenüber seinen Mitglie-
dern setzen dürfen und müssen; diejenigen Bünde sind Bundesstaaten,
bei denen diese Eigenschaften vorhanden sind, die anderen dagegen
sind Staatenbünde.« Dies scheint also die wahre Ansicht Westerkamps
vom wesentlichen Unterschiede zu sein; aber es scheint nur so.
Denn er fügt sofort hinzu: »Indessen ist dieses Unterscheidungsmerk-
mal, welches keine Wesensverschiedenheit zwischen Staaten-
bund und Bundesstaat annimmt, sondern das Unterscheidende nur (!!)
in die Eigenschaften (!) des Bundes setzt, der näheren Bestimmungen
bedürftig, aber auch fähig.« Mit einem Schriftsteller, welcher in dieser
Art die Grundprinzipien der Logik mißhandelt?), ist eine Auseinander-
setzung über dogmatische Begriffe freilich unmöglich. Wenn man
aber das von ihm gefundene Resultat der Nebelhaftigkeit des Gedan-
kens und der Unbestimmtheit der Ausdrucksweise entkleidet und die
Frage dahin vertieft, auf welchem letzten Grunde die »Selbstgenug-
samkeit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit« des Bundes beruht, so
gelangt man zu dem Satze: »Im Bundesstaat ist die Zentralgewält sou-
verän, im Staatenbund sind es die Gliedstaaten.« Dies ist allerdings
richtig, wie oben S. 58 ausgeführt worden ist.
S 9. Die rechtliche Natur des Reiches.
Nach Feststellung der allgemeinen Begriffe des Staatenbundes und
des Bundesstaates als einer Unterart des Staatenstaates ist nunmehr
die Frage zu erörtern, ob das Deutsche Reich nach seiner konkreten
positiven Rechtsgestaltung dem einen oder anderen dieser beiden Be-
griffe zu subsumieren ist, mit anderen Worten: ob das Reich eine
juristische Person des öffentlichen Rechts oder ein Rechtsver-
hältnis unter den deutschen Staaten ist?
Während die überwiegende Mehrzahl der Schriftsteller über das
Recht des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches?) sich
für die staatliche Natur entscheidet, hat Sey del?) mit beachtungs-
werten Gründen den Versuch unternommen, das Reich als einen
Staatenbund aufzufassen und die Bestimmungen der Reichsverfassung
von diesem Prinzip aus zu erklären‘). Seydel hält an dem Erforder-
1) Beispiele dafür lassen sich aus dem Buch von Westerkamp in Menge er-
bringen; aber es handelt sich hier ja nicht um eine Rezension desselben. Vgl. die
treffliche Beurteilung dieses Buches von Jellinek in Grünhuts Zeitschrift Bd. 21,
S. 460 ff.
2) Vgl. die Zusammenstellung der Literatur in G. Meyers Staatsrecht & 71,
Note 2.
3) Kommentar zur Reichsverfassung S. 3 ff., 2. Aufl., S. 13 ft.
4) In dieser Hinsicht stimmen mit Seydel überein v. Martitz, Betrach-