232 8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung.
gangen waren, sind die drei angegebenen Rechtssätze als die einzigen
praktischen Rechtswirkungen der Reichslandseigenschaft übrig geblie-
ben. Dabei ist zu bemerken, daß von dem Wege der Reichsgesetz-
gebung in Landesangelegenheiten niemals Gebrauch gemacht worden
ist und daß für die Wahrnehmung der besonderen Interessen des
Reichslandes im Bundesrat teils durch die vom Statthalter abgeordneten
Kommissare teils dadurch gesorgt wurde, daß Mitglieder der elsaß-
lothringischen Regierung (Staatssekretär und Unterstaatssekretäre) zu
preußischen Bevollmächtigten ernannt worden sind. Das als »Gesetz
über die Verfassung Elsaß-Lothringens« bezeichnete Reichsgesetz vom
31. Mai 1911 hat auch diese drei Ueberreste beseitigt. Die Teilnahme
des Bundesrats an der Läandesgesetzgebung und die subsidiäre Zu-
ständigkeit des Reichstags sind aufgehoben, Elsaß-Lothringen führt im
Bundesrate drei Stimmen und Landesausschuß und Staatsrat sind er-
setzt durch einen aus zwei Kammern bestehenden Landtag, auf wel-
chen ähnliche Bestimmungen Anwendung finden wie sie für den
preußischen Landtag und den Reichstag gelten.
Hiernach erhebt sich die Frage, ob Elsaß-Lothringen durch die
Gleichstellung mit den Bundesstaaten ein Staat geworden ist und ob
der Charakter als Reichsland mit dem Wegfall der ihm eigenen Sym-
ptome aufgehoben worden ist. Die Entscheidung dieser Frage muß
allein aus staatsrechtlichen Gesichtspunkten, nicht nach politischen
Wünschen und Parteitendenzen erfolgen !); denn sie isteine logische
Folgerung aus positiven Rechtssätzen. Die Untersuchung ist also
darauf zu richten, ob dasjenige Merkmal, welches für den Staatsbegriff
wesentlich ist und den charakteristischen Unterschied
zwischen Bundesstaat und Reichsland bildet, nach dem Gesetz vom
31. Mai 1911 für Elsaß-Lothringen noch gegeben ist. Dieses wesent-
liche und deshalb allein maßgebende Merkmal ist eine eigene, auf sich
selbst ruhende, von der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt.
Ist eine solche für Elsaß-Lothringen geschaffen? Die Antwort darauf
gibt der Schlußsatz des Verfassungsgesetzes: »Eskann nur durch
Reichsgesetz aufgehoben oderabgeändert werden.«
Noch jetzt hat Elsaß-Lothringen nicht die Befugnis, seine eigene
Verfassung zu bestimmen; noch jetzt beruht die Existenz des Reichs-
landes und seine Organisation ausschließlich auf dem Willen des Reichs;
noch jetzt ist das Reichsland mit der ihm verliehenen Verfassung
eine Einrichtung des Reichs. Noch jetzt ist das Reich be-
setzes und über die Verhandlungen des Reichstages und der Kommission enthält die
Schrift von Pass, Das Zustandekommen der els.-lothr. Verfassungsreform v. 1911.
Ueber den Regierungsentwurf vgl. Bruck in Hirths Annalen 1911, S. 1ff. Gute
Kommentare zum Verfassungs- und Wahlgesetz sind erschienen von Alfr. Schulze
Gebweiler 1911 und von F. F. Heim mit Vorwort von Kisch Straßburg 1911.
1) Noch weniger kann ins Gewicht fallen, welche für die Theorie und für die
Praxis der Behörden die einfachere und bequemereist. Dies wäre der banalste
Standpunkt, der sich denken läßt.