Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

28 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 
Der Reichstag muß über eine Gesetzesvorlage des Bundesrates 
einen materiellen Beschluß fassen, d. h. sie annehmen oder ablehnen; 
er darf nicht über dieselbe zur Tagesordnung übergehen !). 
Wenn der Reichstag einen Gesetzesvorschlag aufgestellt oder über 
einen vom Bundesrat ihm vorgelegten einen Beschluß gefaßt hat, so 
wird derselbe durch den Präsidenten des Reichstages dem Reichskanzler 
übersendet ?) und von diesem dem Bundesrate in dessen nächster 
Sitzung vorgelegt. Für die Bestimmung der juristischen Natur des 
Reichstagsbeschlusses ist dies nicht ohne Interesse. Die Beschlüsse 
des Reichstags, die ja in öffentlicher Sitzung gefaßt werden, sind dem 
Reichskanzler, den Mitgliedern des Bundesrats, ja aller Welt, bekannt. 
Eine Mitteilung zum Zweck der Kenntnisnahme ist also nicht nötig; 
der Reichskanzler ist ja sehr oft bei der Abstimmung persönlich an- 
wesend. Aber die Uebersendung des Beschlusses an den Reichskanzler 
ist erforderlich, weil der Beschluß des Reichstags eine einseitige 
empfangsbedürftige Willenserklärung ist, welche dem Bundes- 
rat, vertreten durch seinen Vorsitzenden und Geschäftsleiter, gegenüber 
abgegeben werden muß*). Es wird auch dadurch die Ansicht wider- 
legt, daß der Beschluß des Reichstags an die Untertanen gerichtet sei. 
Siehe oben S. 9. Scheinen dem Bundesrate Veränderungen an dem 
Entwurfe erforderlich, so können die von ihm beschlossenen Abände- 
rungen dem Reichstage vorgelegt und die Verhandlungen zwischen 
beiden Körperschaften so lange fortgesetzt werden, bis eine Einigung 
über den Wortlaut des Gesetzes erzielt ist’). 
die formelle Verfassungsmäßigkeit der Beschlüsse des Bundesrates über vorgelegte 
Gesetzentwürfe gegenüber dem Reichstage zu vertreten hat. Durch Art. 16 wird 
demnach dem Kaiser eine staatsrechtliche Funktion zugewiesen, welche vollkommen 
gleichartig ist der im Art. 17 begründeten (siehe unten S. 42 fg.). 
1) Der Reichstag hat dies ausdrücklich anerkannt in seiner (revid.) Geschäfts- 
ordnung S$ 53, Abs. 4 Der Reichstag kann dies aber dadurch umgehen, daß er 
den Gesetzentwurf einer Kommission zur Vorberatung überweist, in welcher diese bis 
zur Schließung der Sitzungsperiode unerledigt bleibt. 
2) Rev. Geschäftsordnung des Reichstages $ 69. 
3) Rev. Geschäftsordnung des Bundesrates $ 8. 
4) Es folgt daraus, daß der Reichstag seinen Beschluß noch widerrufen oder 
abändern kann, so lange derselbe dem Reichskanzler noch nicht mitgeteilt worden 
ist. Vgl. BGB. $ 130. Tatsächlich wird dies wohl kaum vorkommen. 
5) Aus Gründen der Zweckmäßigkeit ist es aber üblich geworden, daß bei wich- 
tigen Gesetzentwürfen von seiten des Bundesrates während der Verhandlungen des 
Reichstages, namentlich nach den bei der zweiten Beratung gefaßten Beschlüssen, 
im Reichstag eine Erklärung darüber abgegeben wird, welchen Beschlüssen des Reichs- 
tages der Bundesrat sich anschließen, welchen er seine Zustimmung versagen wolle. 
Eine formelle Rechtswirkung ist mit einer solchen Erklärung nicht verbunden; es 
bleibt insbesondere dem Bundesrat unbenommen, nachträglich doch noch den Wün- 
schen des Reichstages nachzugeben. Vgl. v. Jagemann S.7l. Dambitsch 
S. 428.
	        
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