8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 3
wähnt; hätte dem Kaiser aber die Befugnis eingeräumt werden sollen,
einem Reichsgesetz die Sanktion zu erteilen oder zu versagen, wäre
also seine Zustimmung zu dem Zustandekommen eines Gesetzes wesent-
lich, so hätte man ihn nicht bei der Aufzählung derjenigen Organe
übergehen können, durch welche die Gesetzgebung ausgeübt wird.
Auch der folgende Passus, wonach die Uebereinstimmung der Mehr-
heitsbeschlüsse beider Versammlungen zu einem Reichsgesetze erfor-
derlich und ausreichend ist, bestätigt, daß die Zustimmung des
Kaisers zum Zustandekommen eines Gesetzes nicht erforderlich ist.
Wenngleich Art. 5, Abs. 1, wie bereits hervorgehoben worden ist, den
Weg der Reichsgesetzgebung nicht vollständig regelt, seine An-
ordnungen also anderweitig ergänzt werden müssen, so wird doch
durch ihn jede mit ihm in Widerspruch stehende Annahme
widerlegt. Aus der Vergleichung des Art. 5, Abs. 1 mit seinem Vor-
bild, dem Art. 62 der preußischen Verfassungsurkunde, ergibt sich
zweifellos, daß die Nichterwähnung der kaiserlichen Zustimmung bei
dem Zustandekommen eines Gesetzes bedeutet, daß dieselbe kein Er-
fordernis für den Erlaß eines Gesetzes sein sollte ').
Ganz direkt ausgeschlossen wird aber das kaiserliche Plazet durch
den zweiten Absatz desselben Artikels, nach welchem Gesetzesvorschläge
über das Militärwesen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 bezeich-
neten Abgaben im Bundesrat als abgelehnt gelten, wenn sich die
Stimme des Präsidiums dagegen ausspricht. Die Einräumung dieses
Rechtes wäre völlig sinnlos, wenn das Präsidium bei allen Gesetzes-
vorschlägen ein liberum veto hätte, oder, richtiger ausgedrückt, wenn
1) Frickera.a. 0. S. 4ff., 25 bestreitet die Beweiskraft des Art. 5, Abs. 1,
weil derselbe eben nicht den gesamten Gesetzgebungsvorgang, sondern nur die Fest-
stellung des Gesetzestextes betreffe, also der Annahme eines kaiserlichen Sanktions-
rechtes nicht im Wege stehe. Art. 62 der preuß. Verfassung aber sagt: „Die gesetz-
gebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern
ausgeübt. Die Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem
Gesetze erforderlich.“ Da man sich an diese Fassung bei der Formulierung des
Art. 5 der Reichsverfassung eng angeschlossen hat, so muß die Nichterwähnung des
Kaisers im Art. 5, Abs. 1 der Reichsverfassung einen Gegensatz gegen das in
Preußen geltende Recht bedeuten. Nun war bei der Abfassung der norddeutschen
Bundesverfassung die Erkenntnis, daß Art. 5, Abs. 1 nur ein Stadium des ganzen
Gesetzgebungsaktes regle, noch nicht durchgedrungen, und man war sich dieser Be-
deutung nicht bewußt; im Art. 62 der preuß. Verfassungsurkunde hatte man in Preußen
die Feststellung der „Gesetzgebungsfaktoren“ erblickt; die verfassungsmäßige Aner-
kennung des Gesetzgebungsrechts des Königs hat man stets im Art. 62, nicht in dem
von der Verkündigung handelnden Art. 45 gefunden (v. Rönne, Preuß. Staatsrecht I,
S 48; Schulze, Preuß. Staatsrecht IL, 8 172). Wenn man daher im Art. 5, Abs. 1
der Reichsverfassung an Stelle des „Königs und der beiden Kammern“ den Bundes-
rat und den Reichstag setzte, ohne den Kaiserzuerwähnen, so kann dies
nicht anders gedeutet werden, als daß der Kaiser kein Faktor der Reichsgesetzgebung
im Sinne des konstitutionellen Staatsrechts sein, sondern auf die in den Art. 16 und
17 angegebenen Befugnisse beschränkt sein sollte.