54 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
IV. Die Verkündigung der Reichsgesetze.
Art. 2 der Reichsverfassung enthält den Satz: »Die Reichsgesetze
erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs-
wegen, welche vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht«. Durch
diese Anordnung wird, wie durch die ersten Artikel der Verfassung
überhaupt, der Gegensatz des Bundesstaats gegen den früheren Staaten-
bund zum Ausdruck gebracht. Die Beschlüsse des Bundestags hatten
nur den Charakter völkerrechtlicher Vereinbarungen; Gesetzeskraft
konnten sie in jedem Bundesstaat nur dadurch erlangen, daß ihnen
dieselbe von dem Landesherrn desselben beigelegt wurde und daß sie
in dem einzelnen Bundesstaate ordnungsmäßig verkündigt wurden;
von Bundeswegen konnten sie verbindliche Kraft nicht erlangen und
sie waren nicht gemeines, sondern gemeinsames Recht der Staaten,
in welchen sie verkündigt wurden. Im Gegensatz dazu stellt Art. 2
den Satz an die Spitze, daß innerhalb des Bundesgebiets das Reich
das Recht der Gesetzgebung ausübt und die Konsequenz dieses Grund-
satzes ist, daß die Reichsgesetze nicht von den Einzelstaaten, sondern
von Reichs wegen verkündigt werden. Dies ist der Zweck und Sinn
dieser Anordnung, dagegen nicht, die Bedeutung, welche der Verkün-
digung im Gesetzgebungsverfahren zukommt, zu bestimmen. Der Weg
der Gesetzgebung wird im Art. 2 der Reichsverfassung nicht behandelt
und überhaupt in der Reichsverfassung nicht im Zusammenhang nor-
miert?), ein praktisches Bedürfnis dafür war nicht vorhanden. Man
darf daher die Bedeutung, welche der Abdruck des Gesetzes im Reichs-
gesetzblatt hat, nicht zu sehr übertreiben’).
Im einzelnen kommen folgende Punkte in Betracht:
1. Die Verkündigung ist keine gewöhnliche Bekanntmachung, son-
dern sie ist die Ausführung eines kaiserlichen Befehls, eine Amts-
handlung der Reichsregierung. Demgemäß kann die Ver-
kündigung nur erfolgen von einem Organ des Reiches; die Verkün-
digung der Reichsgesetze ist ein Bestandteil des zur Reichsgesetzgebung
erforderlichen Vorganges und kann mithin nur vom Reiche ausgehen.
Damit widerlegt sich die von Seydel, Kommentar S. 44 u. 171 auf-
gestellte Ansicht, daß die Verkündigung von Reichs wegen nur eine
»Formvereinfachung sei, und daß es gerade so gut denkbar wäre, daß
die Abänderung des Tit. VIII der Gewerbeordnung, sowie das Gesetz über die ein-
geschriebenen Hilfskassen mit der Maßgabe, dafs das letztere Gesetz bei der Ver-
kündigung dem ersteren vorangehe. Es sollte nämlich das Datum jenes Ge-
setzes in diesem ($ 141) eingefügt werden. Protokoll des Bundesrats 1876, & 152,
S. 109.
1) Die Bestimmungen sind zerstreut in den Art. 2, 5, 7, 16, 17, 23, 78.
2) Dies gilt von den Ausführungen von LukasS. 222 ff., 234 ff.; Dambitsch
S. 46ff. u.a. Die Verkündigung ist der Endpunkt des Gesetzgebungsvorgangs,
aber nicht der Schwerpunkt, der in der Sanktion liegt.