Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

58 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 
gesetz verbindliche Kraft. Im praktischen Verhältnis verhält es sich 
demnach scheinbar so, als erhielten die Reichsgesetze in der Tat 
ihre verbindliche Kraft „durch ihre Verkündigung vermittelst des 
Reichsgesetzblattes.« 
Von der Verkündigung der Reichsgesetze ist zu unterscheiden die 
amtliche Feststellung und Bekanntmachung des Gesetzestextes, wenn 
ein älteres Gesetz durch eine Novelle ergänzt oder verändert wird. In 
mehreren Fällen dieser Art ist durch besondere gesetzliche Anordnung 
der Reichskanzler ermächtigt worden, den unter Berücksichtigung der 
Novelle sich ergebenden Text »durch das Reichsgesetzblatt bekannt 
zu machen« ',, Eine solche Redaktion des Textes ist kein legislatori- 
scher Akt, und die »Bekanntmachung« ist, obgleich sie im Reichs- 
gesetzblatt erfolgt, keine »Verkündigung«. Die Novelle muß vielmehr 
in ihrer ursprünglichen Gestalt ordnungsmäßig verkündigt werden, und 
nur dieser Text ist authentisch. Der vom Reichskanzler festgestellte 
Text hat keine selbständige Bedeutung, d.h. er gilt nur unter 
der Voraussetzung seiner Richtigkeit. Die Feststellung und Bekannt- 
machung des berichtigten Textes hat den rechtlichen Charakter einer 
Verwaltungshandlung, welche ihrem Inhalt nach eine literari- 
sche Arbeit ist, ebenso wie die Abfassung des Sachregisters zum Reichs- 
gesetzblatt. Von der Herstellung und Veröffentlichung des berichtigten 
Gesetzestextes durch Privatpersonen unterscheidet sich die vom Reichs- 
kanzler bewirkte nur dadurch, daß die letztere eine amtliche ist, d. h. 
in Erfüllung einer dienstlichen Verrichtung und unter der damit ver- 
knüpften Verantwortlichkeit erfolgt; hinsichtlich ihrer rechtlichen Wir- 
kung steht sie mit einer Privatausgabe des Gesetzes auf gleicher Stufe. 
V. Es kommt nicht selten vor, daß Reichsgesetze fehlerhaft redi- 
giert oder verkündet werden. Das Reichsgesetzblatt enthält nicht 
wenige »Berichtigungen« der abgedruckten Gesetze. Es erheben sich 
nun die Fragen, ob derartige Berichtigungen zulässig sind, welche 
rechtliche Bedeutung und Kraft sie haben, wer zur Berichtigung des 
verkündeten Gesetzestextes legitimiert ist und in welcher Form sie zu 
erfolgen haben.: In Veranlassung des sonderbaren Falles, daß die No- 
velle zur Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891 im Reichsgesetzblatt von 1898 
S. 33, also sieben Jahre nach ihrer Verkündigung, »berichtigt« und da- 
durch inhaltlich erheblich verändert worden ist, wurden diese Fragen 
im Reichstage, in der Tagespresse und in der staatsrechtlichen Literatur 
erörtert?2). Es sind in dieser Hinsicht drei Fälle zu unterscheiden: 
1) Vgl. z. B. Novelle zum Strafgesetzbuch vom 26. Februar 1876, Art.5 (Reichs- 
gesetzbl. S. 38); Novelle zur Gewerbeordnung vom 1. Juli 1883, Art. 16 (Reichsge- 
setzbl. S. 176); Novelle zum Stempelgesetz vom 29. Mai 1885, Art. II (Reichsgesetzbl. 
S. 177); Gesetz über die Schutzgebiete vom 15. März 1888, Art. III (Reichsgesetzbl. 
S. 75) u.v.a. 
h) Vgl. Stenogr. Berichte des Reichstags 1897/98, Bd. 3, S. 1863 ff. 
(Sitzung vom 29. März 1898). Fleischmann, Weg der Gesetzgebung in Preußen, 
S. 98ff.; Lindemann im Archiv für öffentl. Recht, Bd. 14, S. 145 ff.; M.v. Schulz
	        
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