8 54. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. 3
dings zugegeben werden, daß die weit überwiegende Masse aller Ge-
setze, welche sich auf einen individuellen Fall beziehen, Verwal-
tungsakte in Gesetzesform sind (vgl. unten & 64), aber es ist
doch die Möglichkeit vorhanden, daß wegen besonderer außergewöhn-
licher Umstände ein Rechtssatz (oder ein Complex von solchen) für
einen individuellen Tatbestand, der nur ein einziges Mal sich verwirk-
lichen kann, aufgestellt wird. Dahin gehört z. B. ein Gesetz wegen
Einrichtung einer Regentschaft in einem konkreten Verhinderungsfall
eines Monarchen, oder eine Anordnung über die Thronfolge für einen
konkreten Fall der Thronerledigung oder die gesetzliche Anerkennung
eines individuell bestimmten, aus einer nicht ebenbürtigen Ehe ent-
sprossenen Prinzen als thronfolgefähigen Agnaten. Denn die Thron-
folgeordnung hat den Charakter des objektiven Rechts, und zwar
auch dann, wenn sie einen Satz enthält, der nur auf einen Sukzes-
sionsfall anwendbar ist. Dasselbe gilt, wenn mit Rücksicht auf be-
sondere Zeitumstände ein Spezialgesetz für die einmalige Vornahme
der Wahlen zum Reichstag oder Landtag erlassen wird; denn das
Wahlrecht ist ein objektives Recht, auch wenn es nur für die Bil-
dung eines individuell bestimmten Parlamentes Geltung hat. Oder
sollten etwa die Landesgesetze von 1866 über die Wahlen zum kon-
stituierenden Reichstage des Norddeutschen Bundes keine Rechtsnor-
men enthalten haben, weil sie Gesetze für einen Fall waren? Die-
selbe Auffassung muß auch Platz greifen, wenn aus besonderen Grün-
den, z. B. wegen eines großen Krieges, die verfassungsmäßige Legislatur-
periode eines Reichstages oder Landtages einmal verlängert wird,
wie dies durch das Bundesgesetz vom 21. Juli 1870 (Bundesgesetzbl.
Ss. 498) geschehen ist!).
HermansonS. 75fg.; Stobbe, Deutsches Privatrecht I, 8 18; DyroffS. 826;
Anschütz, Krit. Studien S.23fg.; Regelsberger, Pandekten $ 30; Gierke,
Deutsches Privatrecht I, $ 16, Note 1. Diejenigen Schriftsteller, welche den begriff-
lichen Gegensatz der materiellen und formellen Gesetze überhaupt verwerfen (siehe
unten 8 56), d.h. überall da, wo die Gesetzesform beobachtet ist, auch ohne
weiteres die Anordnung eines Rechtssatzes annehmen, kommen hier nicht in Betracht;
denn daß die Gesetzesform auch bei solchen staatlichen Akten, die einen ein-
zelnen Fall betreffen, Anwendung finden kann und häufig angewendet wird, ist un-
zweifelhaft.
1) Andere Beispiele aus dem Bereich der Reichsgesetzgebung sind das Gesetz
vom 24. Dezember 1874 (Reichsgesetzbl. S. 194) über die geschäftliche Behandlung
der Entwürfe der Justizgesetze, sowie die Gesetze über die Kontrolle der Staats-
rechnungen, welche von Jahr zu Jahr erlassen werden; das Gesetz vom 6. März 1878
über die Präklusion der Darlehenskassenscheine; das Gesetz vom 15. Dezember 1890
über die Vereinigung von Helgoland mit dem Deutschen Reich; das Gesetz vom
28. Februar 1892 betreffend die österreichischen Vereinstaler.. Dahin gehören auch
Gesetze, welche den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines anderen Gesetzes anordnen.
Rosina.a. O.S.7 sagt: „Es kann ein einzelner, in der Welt der Tatsachen real
zur Erscheinung gelangter oder noch gelangender Tatbestand Gegenstand der gesetz-
lichen Normierung sein, wenn diese Normierung nur für ihn als für eine eigene
Einheit erfolgt“. Er unterscheidet demgemäß im Anschluß an Jhering, Zweck