12 & 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze.
3. Die formelle Gesetzeskraft kann einem Willensakt des Staates,
welcher nicht in der Form des Gesetzes erlassen worden ist, beson-
ders beigelegt werden, nämlich durch die Vorschrift, daß er nur im
Wege der Gesetzgebung abgeändert werden könne. Ein bekanntes und
wichtiges Beispiel hierfür liefert die preußische Verordnung wegen Bil-
dung der Ersten Kammer vom 12. Oktober 1854, welcher durch das
Gesetz vom 7. Mai 1853 im Voraus formelle Gesetzeskraft beigelegt
worden war. Aus dem Gebiet der Reichsgesetzgebung sind als Bei-
spiele zu erwähnen die Verordnungen über die Abgrenzung der Reichs-
tagswahlkreise (siehe Bd. 1, S. 318) und die auf Grund des 8 6, Abs. 2
des Einführungsgesetzes zur Zivilprozeßordnung erlassenen Verord-
nungen. Auch diejenigen kaiserlichen Verordnungen, durch welche
der Zeitpunkt festgesetzt wird, mit welchem ein Reichsgesetz in Geltung
tritt, haben von diesem Termin an formelle Gesetzeskraft, da die De-
legation zum Erlaß solcher Verordnungen nicht die Befugnis einschließt,
die Geltung einmal in Kraft getretener Gesetze wieder aufzuheben.
4. Es kann andererseits einer in Form des Gesetzes erlassenen
Vorschrift die formelle Gesetzeskraft entzogen werden durch die ge-
setzliche Bestimmung, daß sie im Verordnungswege abgeändert oder
aufgehoben werden kann. Beispiele dafür sind $ 6, Abs. 1 des Ein-
führungsgesetzes zur Zivilprozeßordnung von 1877, und 8 6 des Zoll-
tarifgesetzes vom 15. Juli 1879 (Reichsgesetzbl. S. 210). Vgl. auch Ge-
setz vom 10. September 1883, $ 2 (Reichsgesetzbl. S. 303) ').
9. Die formelle Gesetzeskraft läßt eine Abstufung oder Steigerung
zu, indem die Formen, in denen eine Anordnung abgeändert werden
kann, mehr oder weniger erschwert werden können. Hierauf beruht
der Unterschied zwischen einfachen und Verfassungsgesetzen, wofern
für die Aufhebung der letzteren besondere, vom gewöhnlichen Wege
der Gesetzgebung abweichende Regeln gelten. Die erhöhte Kraft der
Verfassungsgesetze ist eine verstärkte formelle Gesetzeskraft, während
die materielle Wirkung einer Vorschrift ganz unberührt davon bleibt,
ob die Vorschrift in der Verfassungsurkunde oder in einem »einfachen«
Gesetze oder in einer rechtsgültig erlassenen Verordnung enthalten ist?).
Demgemäß kann auch einer Gesetzesbestimmung, welche nicht in die
Verfassungsurkunde aufgenommen worden ist, die formelle Kraft einer
Verfassungsbestimmung beigelegt werden durch die Anordnung, daß
sie nur auf dem für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Wege
abgeändert werden darf; und andererseits kann einer Verfassungsbe-
nach längerer Zeit erlassenen Ergänzungs- oder Ausfüllungsbestimmungen. Binding,
Handb. d. Strafrechts I, S. 228. Dyroff S. 876ff. bildet eine besondere Kategorie
der „bezugnehmenden Gesetze“, um diese und ähnliche Erscheinungen zu erklären.
1) Die von Dyroff S. 897 erhobenen Bedenken sind m. E. nicht erheblich,
wenngleich es richtig ist, daß die Entziehung der „Bestandsgarantie“ in Gesetzes-
form erfolgen muß und eine beschränkte oder bedingte sein kann.
2) Vgl. Dyroff S. 909 ff.