Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

364 & 83. Gerichtswesen. Einleitung. 
die Negierung einer eigenen Gerichtsbarkeit des Bundes, und dies 
wurde durch die Spezialanordnungen der Verfassung hinsichtlich der 
Zuständigkeit des Bundesrates bei Beschwerden über Justizverweige- 
rung und hinsichtlich der Zuständigkeit des Oberappellationsgerichts 
zu Lübeck bei Hochverratsfällen in unzweifelhafter Weise bestätigt. 
Das Gesetz vom 12. Juni 1869 enthält daher zwar keine Abänderung 
derjenigen Sätze, welche die Verfassung des Norddeutschen Bundes 
ausdrücklich ausspricht, wohl aber brachte dieses Gesetz einen 
Rechtssatz über die Zuständigkeit des Bundes zur Anerkennung, den 
die Bundesverfassung durch Stillschweigen ausgeschlossen hatte. 
Dem aus Art. 4, Ziff. 13 folgenden Satze: Die Bundesstaaten üben die 
Gerichtsbarkeit nach Maßgabe der ihnen vom Bunde darüber er- 
teilten Vorschriften aus — wurde implicite der Verfassungsgrundsatz 
beigefügt: sie üben sie auch nur in dem Umfange aus, den der 
Bund bestimmt, d. h. soweit der Bund die Gerichtsbarkeit nicht durch 
eigene Organe ausübt. 
Da nun bei der Gründung des Reiches gleichzeitig mit der Ver- 
fassung auch das Gesetz vom 12. Juni 1869 Geltung für das ganze 
Reich erhielt, so ergibt sich, daß die Verfassung mit derin die- 
sem GesetzenthaltenenAbänderung und Ergänzung 
eingeführt worden ist, und daß demnach der Schluß, welchen man 
aus dem Schweigen der Verfassung des Norddeutschen Bun- 
des über Bundesgerichtsbarkeit ziehen mußte, aus dem Schweigen der 
Reichsverfassung nicht gezogen werden kann. Das Reich hatte 
vielmehr von Anfang an eine eigene Gerichtsbarkeit in bürgerlichen 
Rechtsstreitigkeiten und die verfassungsmäßige Befugnis, den Umfang 
derselben zu bestimmen. Von dieser Befugnis hat das Reich auch 
einen ausgiebigen Gebrauch gemacht, indem es seit dem 1. Oktober 
1879 an die Stelle des Oberhandelsgerichts das Reichsgericht gesetzt 
hat, dem eine umfassende Zuständigkeit in bürgerlichen Rechtsstreitig- 
keiten und Strafsachen, sowie in einigen anderen Angelegenheiten bei- 
gelegt worden ist. Das Reichsgericht ist, sowie das ehemalige Bundes- 
oberhandelsgericht, kein gemeinschaftliches Gericht der deutschen 
Staaten, sondern eine Reichsbehörde; die Mitglieder werden vom Kai- 
ser ernannt und sind Reichsbeamte; es fertigt seine Urteile nicht aus 
im Namen desjenigen Landesherrn, aus dessen Staatsgebiet die Rechts- 
sache erwachsen ist, sondern im Namen des Reichs; es übt nicht die 
Staatsgewalt der Einzelstaaten, sondern die über den Einzelstaaten 
stehende Reichsgewalt aus. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter 
das Reich, welches durch die Verfassung auf die Gesetzgebung und 
Beaufsichtigung beschränkt war, ist auf die Handhabung der Rechts- 
pflege selbst ausgedehnt worden. 
Der Norddeutsche Bund hat ferner in dem Gesetz vom 21. Juni 
1869) die in der Verfassung Art. 4, Ziff. 11 in Aussicht genommenen 
1) Bundesgesetzbl. 1869, S. 305 ff.
	        
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