2. Der Bundesrath. 55
Stimmenabgabe erscheint. Dem fertigen Bundesrathsbeschluss hat-
tet nichts von seiner Entstehung aus einzelstaatlichen Voten mehr an.
Da der Bundesrath neben und mit dem Kaiser als zweites Organ
der Reichsgewalt dasteht, so muss zwischen beiden Organen eine
verfassungsmässige Vertheilung der staatsrechtlichen Funktionen
stattgefunden haben. Eine systematische Sonderung der Funktionen
ist nicht vorhanden; vielmehr ist jedes der beiden Organe nuf jedem
der drei grossen Gebiete der Staatsthätigkeit mehr oder weniger
mitbetheiligt. Im ganzen aber kann man sagen. wie dem Kaiser
vorzugsweise die Regierungsgewalt, die sogenannte Exekutive, zu-
getheilt ist, so liegt der Schwerpunkt der bundesräthlichen Zustän-
digkeit in der Gesetzgebung, welche von ihm unter Mitwirkung des
Reichstages ausgeübt wird. Ausserdem stehen aber dem Bundes-
rathe auch einzelne Funktionen der Regierungsgewalt und der
Rechtspflege zu. Die einzelnen Zweige der Bundesrathsthütigkeit
können nur bei der Darstellung der Funktionen selbst (Abtheilung
II des II. Buches) eingehend erörtert werden. Hier werden diesel-
ben nur soweit erwähnt, als dies zum Verständnisse des Bundes-
rathes in seiner organischen Stellung im Gliederbau des Reiches
nöthig ist.
A) Gesetzgebung.
Der Bundesrath ist in erster Linie das Organ der gesetzgeben-
den Gewalt des Reiches. Nach Artikel 7 »beschliesst der Bundes-
rath über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von
demselben gefassten Beschlüsse«. Dahin gehören vor allem alle Ge-
setzentwürfe, mögen dieselben vom Bundesrathe oder dem Reichs-
rathe ausgegangen sein, welche erst durch dieSanktion des Bundes-
rathes Gesetzeskraft erhalten. Dem Bundesrath steht ausserdem
das Verordnungsrecht zu, indem er »über die zur Ausführung
der Reichsgesetze erforderlichen Verwaltungsvorschriften und Ein-
richtungen zu beschliessen hat. Für dieses Verordnungsrecht des
Bundesrathes’streitet die Vermuthung, doch lässt Artikel 7 Ausnah-
men zu, »eofern durch Reichsgesetz etwas anderes bestimmt wird«.
Auf einzelnen wichtigen Gebieten steht das Verordnungsrecht ver-
fassungsmässig ein für allemal dem Kaiser zu. Ausserdem wird in
vielen Reichsgesetzen der Erlass von Ausführungsverordnungen
dem Kaiser, dem Reichskanzler oder den Regierungen der Einzel-
staaten überlassen. \o dies aber nicht ausdrücklich geschehen ist,
tritt das regelmässige Verordnungsrecht des Bundesrathes ein.