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So wichtig nun auch diese Meinungsverschiedenheiten in
der inneren Politik waren, so sah ich doch auch darin keinen
Anlaß zu einem baldigen Scheiden von meinen Aemtern.
Denn ich meinte, der Ausfall der bevorstehenden Reichstags-
wahlen werde den Kaiser selbst über die Notwendigkeit des
Fortbestehens des Sozialistengesetzes belehren, und die Be-
ratungen des preußischen Staatsrates und der internationalen
„Arbeiterschutzkonferenz würden die Unausführbarkeit der kaiser-
lichen Erlasse dartun, und jene Körperschaften würden daher
diese Erlasse ablehnen. In alledem sollte ich mich bekanmtlich
täuschen, der Ausfall der Reichstagswahlen von 1890 belehrte
den Kaiser nicht; der Staatsrat nickte dem in den Erlassen
bekundeten Willen des Monarchen einfach zu, und die inter-
nationale Konferenz war eine einzige Phraseologie.
Obleich von den Ministern, vom Staatsrat und der Kon-
ferenz im Stiche gelassen, durfte ich noch immer hoffen, diese
innerpolitischen Meinungsverschiedenheiten in persönlichen
mündlichen Erörterungen vor meinem jungen kaiserlichen Herrn
allmählich aus dem Wege räumen zu können, wenn es mir nur
gelang, meinen vollen verfassungsmäßigen Einfluß als Reichs-
kanzler und preußischer Ministerpräsident, der durch die Hinter-
treppenpoliitk unverantwortlicher Ratgeber rechtswidrig ge-
schmälert und beiseite geschoben werden war, zu behaupten.
Sie waren alle bewußt oder unbewußt am Werke, mich nus
dem Amte zu drängen. Ich betonte daher sowohl dem Kaiser
als den Ministern und Räten gegenüber sehr nachdrücklich,
daß ich als Reichskanzler für die gesamte innere und äußere
Reichspolitik allein verantwortlich sei, sowohl nach der Reichs-
verfassung als nach dem Stellvertretungsgesetz; daß ich als
preußischer Ministerpräsident nach der Kabinettsordre vom-
8. September 1852 das alleinige Recht habe, dem König über
alle wichtigen Verwaltungsmaßregeln Vortrag zu halten, daß
alle Departementschefs mit dem Ministerpräsidenten hierüber
vorher schriftlich oder mündlich sich zu verständigen hätten,