Full text: Leopold von Ranke's sämmtliche Werke. 27. und 28. Band. Zwölf Bücher Preußischer Geschichte. Fünftes bis neuntes Buch. (27)

8 Fünftes Buch. Erstes Copitel. 
Frankreich und dem Hause Oesterreich hörte nicht auf; aber Oesterreich, 
das nun erst nach Jahrhunderte langem Kampfe sich Ungarn unter- 
worfen und einen großen Theil der spanisch-italienischen Landschaften 
erworben hatte, überdies die erste Stelle in dem deutschen Reiche ein- 
nahm, bildete auch von Spanien getrennt eine große europäische Macht, 
den meisten anderen überlegen, auch den mächtigsten ebenbürtig. Wenn 
Frankreich nicht mehr fähig war, die Freiheit von Europa und die 
Unabhängigkeit von Deutschland jeden Augenblick zu gefährden; so 
behauptete es doch nicht allein seine alten Grenzen unversehrt, sondern 
auch einen guten Theil der über das deutsche Reich gemachten Er- 
oberungen. 
Nothwendig vollzog sich mit diesen Ereignissen auch ein Wechsel 
in den allgemeinen Tendenzen, welche bis dahin den Zeiten ihr 
Gepräge gegeben hatten. 
Für Brandenburg-Preußen trat die Frage ein, ob es sich zwischen 
den weltbeherrschenden Mächten, die noch immer, zum Theil in offenem 
Kampf, zum Theil in lebendigstem Gegensatz gegeneinander begriffen 
waren, selbständig erhalten und zu wirklicher Macht erheben würde. 
Es wäre ohne Zweifel ein nützliches historisches Unternehmen, die 
politischen Verwickelungen dieser Epoche, von denen eine immer in die 
andere eingreift, in ihrem allgemeinen Zusammenhang zu erforschen 
und darzustellen. Dazu aber wäre die Benutzung der Archive aller 
vorwaltenden Mächte und sogar der Höfe zweiten Ranges erforder- 
lich. Dann erst würde die Stellung der einzelnen Staaten in den 
verschiedenen Momenten in ihrem rechten Lichte erscheinen und das 
politische Verhalten eines Jeden sich beurtheilen lassen. Uns kann es 
nicht in den Sinn kommen, etwas Aehnliches in Bezug auf die all- 
gemeinen Verhältnisse zu versuchen und etwa die Abwandlungen der 
preußischen Politik in jedem Zeitpunkt nach dem Wechsel der Umstände 
eingehend zu erörtern. Nur die Hauptmomente dürfen wir hier in 
Erinnerung bringen. 
Noch war, wie angedeutet, der Utrechter Friede keineswegs das 
geltende Gesetz in Europa geworden, auch nicht in seinen allgemeinsten 
Bestimmungen. 
Kaiser Carl VI hatte sich noch nicht zur Verzichtleistung auf die 
spanische Succession entschlossen. Er gab dem Sohne, der ihm ge- 
boren wurde, den Titel eines Prinzen von Asturien: König Philipp V 
bezeichnet er in seinen intimen Briefen als Herzog von Anjou. Da- 
gegen war Philipp V weit entfernt davon, auf die Herstellung der 
alten spanischen Macht selbst und auf die eventuelle Succession seiner
	        
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