Pelen. (Juni 22.) 505
Zur Erläuterung dieser Erklärung betont Ministerpräsident Steczkowski
gegenüber Vertretern der Warschauer Presse, daß die Regierung sich in
erster Linie von Realitäten bestimmen lasse. Die Erklärung der Regierung
verfolge das Ziel, der bei den Zentralmächten verbreiteten Meinung ent-
gegenzutreten, als ob die poln. Volksgemeinschaft und Regierung sich Deutsch-
land und Oesterreich-Ungarn gegenüber zweideutig verhielten und ihre In-
teressen unter Außerachtlassung der Meinung dieser Mächte verfolgen wollten.
22. Juni. Eröffnung des Staatsrates.
Im Kolonnensaal des Warschauer Königsschlosses findet die feierliche
Eröffnung des Staatsrates (s. S. 503) durch Erzbischof v. Kakowski statt.
Fürst Lubomirski verliest namens des Regentschaftsrates die Thron-
rede, in der es u. a. heißt: Der heutige Tag bedeutet einen wichtigen Schritt
vorwärts in der Entwicklung der Kraft des poln. Staates. Im Staatsrat
erhalten wir denjenigen Faktor der Staatsgewalt, dessen Bestehen sowohl
die unumgänglichen allgemeinen Bedingungen für die Gestaltung der poln.
politischen Verfassung als auch die dringendsten Bedürfnisse des täglichen
Lebens verlangen. Daher begrüßt der Regentschaftsrat in Ihrer Versammlung
die erste poln. gesetzgebende Körperschaft seit vielen Jahren, in der tiefen
und freudigen Zuversicht, daß Ihre patriotische Besonnenheit, Ihr geduldiger
Eifer und Ihre Kenntnis von den Angelegenheiten des Landes Bürgschaft
für fruchtbare Arbeit und zutreffende Entscheidungen in allen denjenigen
wichtigen Aufgaben sein wird, die auf Entscheidung warten. Fürst L. ent-
wickelt sodann ein Bild von den Aufgaben des Staatsrates, wobei er den
Entwurf eines Militärgesetzes betont, das in der Erwägung eingebracht
wird, daß es die erste Pflicht eines Volkes, das frei werden wolle und solle,
sei, dem Vaterlande das Recht zu verleihen, seine Staatsbürger zu seiner
Verteidigung zu berufen. Die Thronrede schließt: Der Regentschaftsrat
und die poln. Regierung hegen in genauer Betrachtung der Entwicklung
der Tatsachen die feste Ueberzeugung, daß das ganze Volk zu ihm steht,
vereinigt in dem Streben nach einem freien und unabhängigen Dasein,
und daß dieses Bestreben durch die unerschütterliche Logik der Geschichte
unterstützt wird, welche durch den großen Krieg zur Befreiung der Völker
und zur staatlichen Neugestaltung im Osten Europas führt. Wir stützen
uns auf den großherzigen Akt der mächtigen Herrscher, die Polen ein un-
abhängiges Dasein verbürgen. Diese Bürgschaft ist einerseits die Quelle
tiefer Dankbarkeit für die Monarchen, andererseits für uns und unsere
Regierung die Grundlage der Ueberzeugung, daß die Verwirklichung der
staatlichen Unabhängigkeit Polens, in engem Einvernehmen mit den beiden
Zentralmächten fortschreitend, in einem dauernden Vertrage mit diesen zum
Ausdruck kommen wird. Indem wir diesen Weg gehen, wünschen wir, daß
Polen eine historische Mission im Osten Europas verwirkliche, und wir
glauben fest, daß unser Erfolg im höchsten Maße davon abhängt, welche
kulturelle und politische Reife wir im Innern unseres eigenen Volkes er-
langen werden, und deswegen, m. H., legen wir das größte Gewicht auf Ihre
Arbeit, deren Verlauf und deren Ergebnisse. Tief bewegt flehen wir Gott um
seinen Segen an für sie, der zugleich auch für Polen ein Segen sein wird.
Nach der Verlesung der Thronrede erklärt der Erzbischof den Staats-
rat für eröffnet. Hierauf wird das vom Regentschaftsrat zum Marschall
des Staatsrates bestellte Staatsratsmitglied Franziszek Pulaski ver-
eidigt. Am Nachmittag findet die erste ordentliche Sitzung statt, in der
die Wahl der beiden Vizemarschälle (die Staatsratsmitglieder Mikulowski-
Pomorski und Badzynski), der vier Sekretäre und eines Hauptausschusses
vorgenommen wird.