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gegen einen einzelnen gerichtet, so wurde es entweder durch die Blutrache oder
durch eine Buße gesühnt. An dem Mörder oder Entführer Blutrache zu üben,
sahen die Verwandten als heilige Pflicht an. Für geringere Vergehen wurde eine
Abgabe an Vieh, das „Wergeld“, festgesetzt. Mit solchen Vergehen befaßte sich
die Volksversammlung nur, wenn sie angerufen wurde. Der Kläger lud den Be-
klagten vor Gericht. Hier fragte er ihn, und der Angeklagte mußte ihm auf jede
Frage antworten. Das Gericht stellte die Schuld fest und bestimmte die Strafe.
In zweifelhaften Fällen entschied der Eid, das Gottesurteil oder der Zwei-
kampf. Hernach war es Sache des Klägers, das Urteil zu vollstrecken.
6. Kriegführung. Zogen mehrere Gaue gemeinsam in den Krieg, so wurde
der Tapferste und Angesehenste auf einen Schild erhoben und zum Anführer ge-
wählt. Man nannte ihn Herzog, weil er vor dem Heere herzog. Die Hauptwaffen
der Deutschen waren Streitäxte aus Stein, kurze Schwerter, Schild und
Pfrieme (Spieß mit scharfer Eisenspitze). Als Helme dienten die Felle wilder Tiere.
Rachen und Hörner ragten erschreckend über den Kopf hervor. Drohte dem Lande
ein Feind, so wurden die freien, wehrbaren Männer aller Gaue zu den Waffen
gerufen. Sie bildeten den Heerbann oder die Landwehr. Von Hof zu Hof erscholl
der Aufruf, und alles eilte gerüstet herbei. Vor dem Angriffe ertönten Hörner von
Auerochsen, die Schilde wurden schrecklich dröhnend übereinander geschlagen, und
mit einem fürchterlichen Geschrei begann der Kampf.
3. Religion.
Der Deutsche liebte die freie Natur über alles. Ja die Naturkräfte waren
ihm nach und nach zu Personen, zu Göttern geworden, die sein Schicksal leiteten
und denen er in heiligen Hainen oder auf luftigen Höhen Opfer darbrachte. Wie
in der Natur der Frühling mit dem Winter, das Morgenrot mit der Nacht um die
Herrschaft ringt, so dachte man sich auch die Götter in stetem Kampfe: im Kampfe
mit den Frostriesen, im Kampfe auch untereinander.
Der höchste Gott war Wodan, der Himmelsgott. Ihn stellte man sich ein-
äugig vor, wie der Himmel ja auch nur ein Auge, die Sonne, hat. Auf achtbeinigem
Roß, bekleidet mit dem grauen, rotgeränderten Wolkenhut und dem blauen Sturm-
mantel, fährt er durch die Luft. Zwei Raben, seine Boten, und zwei hungrige Wölfe,
seine Jagdhunde, begleiteten ihn; hinter ihm her saust das wilde Heer. (Sage vom
wilden Jäger.) Er thront in der hunderttorigen Himmelsburg Walhalla, die mit
goldenen Schilden und Speerschäften getäfelt ist. Hier ist auch der fröhliche Aufent-
haltsort der im Kampfe gefallenen Helden.
Sie werden von den Schlachtjungfrauen (Walküren) auf schwarzen Rossen zur Wal-
halla geführt. Hier empfängt sie Wodan. Ein Sänger begrüßt sie, und die Göttin Iduna
reicht ihnen einen Apfel, der sie ewig jung hält.
Jeden Tag reitet Wodan mit den Helden zum Kampfe vor das Tor. Am Abend bläst
er in sein Horn. Dann heilen im Nu alle Wunden, und fröhlich ziehen sie alle heim zum Fest-
mahle. Da gibt es köstlichen Schweinebraten, und eine Ziege liefert so viel Milch, als sie nur
trinken wollen.
Die den Strohtod Gestorbenen erwarten bei Hel im kalten Niflheim das Welt-
ende. Wodan lenkt aber auch die Geschicke der Menschen. Ebenso ist er es, der das
Korn auf dem Felde wachsen läßt und im Kampfe den Sieg verleiht. Um seine Gunst
zu erlangen, opfert man ihm Rosse.