Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiter Jahrgang. 1861. (2)

Uebersicht der Ertignisse des Zahres 1861. 307 
keinem Fall thatsächliche Unordnungen gestatten werde“, aber doch zugleich 
auf die Reformen“ hinwies, welche „der Lauf der Zeit und die Ent- 
wickelung der Interessen fordere“ und denen er „seine ganz Zeit widme“. 
Bestimmte Zugeständnisse an die Polen als solche wurden indeß keine 
gemacht. Die Veröffentlichung des Resecripts blieb daher wirkungslos, 
obgleich der Fürst-Statthalter den Vertretern der Bevölkerung privatim 
mittheilte, daß demnächst ein kaiserliches Manifest bezüglich Reformen 
speziell für Polen erscheinen würde. Am 26. März erschien wirklich ein 
Ukas des Kaisers, durch welchen den Polen die Errichtung einer besonderen 
Direction bei der russischen Regierung in Warschau für Cultus und 
Unterricht, die Cinsetzung eines polnischen Staatsraths und endlich die 
Organisation von wählbaren Gemeinde-, Kreis= und Gubernialräthen 
zugestanden wurde. Die Concessionen, obwohl allerdings nicht allzuweit- 
gehend, waren immerhin annehmbar, befriedigten jedoch die öffentliche 
Meinung, namentlich in Warschau, keineswegs. Der Umstand, daß der 
Fürst-Statthalter in der Proclamation, durch welche er am 31. März 
den Ukas des Kaisers verkündete, von einem „Häuflein schädlicher Menschen“ 
sprach, welche allein die bisherigen „Unordnungen“ in Warschau ver- 
schuldet hatten, rief sogar eine neue allgemeine Aufregung hervor, die der 
Fürst am folgenden Tage selbst durch eine zweite Proclamation zu be- 
schwichtigen suchte, indem er das Volk zum ersten Mal als „Polen“ an- 
redete und von der ihnen so theuern „Nationalität“ sprach. Dennoch 
war der Fürst offenbar gemeint und entschlossen, daß der halbrevolu- 
tionäre Zustand, der seit den Februartagen in Warschau geherrscht hatte, 
jetzt ein Ende nehmen müsse. Demgenäß wurde die Zahl der Delegirten 
des Bürgerausschusses vermindert, die Constabler, in der die Polen gern 
eine Art Nationalgarde sahen, wieder abgeschafft, die populären Ver- 
sammlungen, die zeither allabendlich in der sog. kaufmännischen Ressource 
stattgehabt hatten, geschlossen. Die eingetretene Bewegung war aber 
bereits zu allgemein und zu heftig geworden, um sich so plötzlich ein- 
dämmen zu lassen, ohne den Damm zu überfluthen. Alltäglich fanden 
nun an der Stelle, wo die Februaropfer gefallen waren, Volks-Demon-= 
strationen statt, die freilich nur aus Gebeten und Gesäugen bestanden; 
aber als am 6. April die russische Regierung in Warschau den polnischen 
landwirthschaftlichen Verein, den sie nicht ohne Grund als die Seele der 
ganzen Agitation ansah, für aufgehoben erklärte, brauste die allgemeine 
Gährung noch einmal mit revolutionärer Heftigkeit auf. 
Schon am frühen Morgen den 7. April strömten die Massen zu 
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