Uebersicht der Ereignisse des Lahres 1861. 309
angestimmt, doch von keiner Seite Gewalt gebraucht: Volk und Militär
standen sich wartend gegenüber. Der Statthalter, Fürst Gortschakoff, kam
selbst herangeritten und bat das Volk, nach Hause zu gehen. Aber dieses
rief laut um vorherige Entfernung des Militärs. Der Fürst zögerte, die
Masse begann ungeduldig zu werden, dann besann sich der Fürst und plötz-
lich begann ein Bataillon nach dem andern unter dem Gelächter der Masse
abzuziehen. Kaum war dies geschehen, so drang das Kommando zum
Auseinandergehen blitzschnell auch durch die Volksmenge, die sich ruhig
zerstreute. Der Fürst hatte nachgegeben, das Militär fühlte sich gedemü-
thigt, das Volk aber glaubte einen unzweideutigen Sieg über die Regie-
rungsgewalt errungen zu haben. Der Versuch wurde daher am folgenden
Tage erneuert. Gewaltige Volksmassen versammelten sich gegen Abend vor
dem Schlosse und in den benachbarten Straßen, während starke Truppen-
massen sich allmählig vor jenem aufstellten. Umsonst wurden alle Mittel
der Güte versucht, um die Volksmassen zu zerstreuen; dreimal wurde nach
Trommelschlag die Aufruhrakte verlesen — die Masse antwortete mit
Pfeifen, Schreien und zuletzt sogar mit Steinwürfen. Nun wurden zunächst
die Gendarmen vorgeschickt mit dem Befehl, die flache Klinge zu gebrau-
chen und die Haufen zu zerstreuen. Dies hatte indeß nur die Wirkung,
daß die vordersten Reihen sich zurückzogen und andere aus der Mitte sich
hervordrängten mit Heiligenbildern und religiösen Abzeichen. Auch die
Kosacken, welche jetzt beordert wurden, richteten nichts aus. Endlich rückte
die Infanterie mit ihren Kolben vor, doch obne zu schießen oder zu stechen;
aber die Priester mit ihren Heiligenbildern stellten sich vor und man suchte
unter dem Deckmantel der Religion jedem Angriff Trotz zu bieten. Als
so der Unmuth der Truppen durch zwei Stunden auf alle nur mögliche
Art herausgefordert worden war, wurde noch einmal verkündigt: Wir wer-
den schießen, und so geschah es auch, doch zuerst nur in die Luft. Da
erfolgten jedoch Schüsse aus benachbarten Häusern und Steinwürfe, so
daß eine Anzahl Soldaten schwer und leicht verwundet, zwei Soldaten
getödtet wurden. Nunmehr wurde auf die Massen und in die Häuser
geschossen, aus denen Schüsse gefallen waren. Jetzt erst fingen die Massen
zu weichen an, während die Truppen nachdrangen und schießend und mit
dem Kolben die Straßen säuberten. Die Todten und schwer Verwundeten
wurden diesmal nicht auf dem Platze zurückgelassen, sondern von den
Truppen aufgenommen und nach dem Schlosse gebracht, um ein öffentliches
Begräbniß zu verhindern. Abends halb acht Uhr hatte das Schießen
aufgehört; gegen 10 Uhr waren die Straßen wie ausgestorben, während