338 Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1861.
arretiren, die Frauen aber und die Kinder frei lassen. Auf diese Publi-
kation hin erklärte die Geistlichkeit dem Grafen Lambert am 17. schriftlich,
daß sie zu ihrem ersten Entschlusse, die Kirchen zu schließen, zurückgekehrt
sei. Umsonst protestirte die Regierung: die Stadt ward unter eine Art
Interdict gesetzt, der Bruch zwischen der Kirche und der Regierung war
ein vollständiger. Die Lage der Regierung war eine bedenkliche. Auf
der einen Seite fühlte sie sich in ihrem Rechte, das Absingen der revolu-
tionären Lieder, das die Kirche mit ihrem Mantel schützte, um jeden Preis
zu verhindern, auf der andern Seite bedauerte sie das Mittel, das dazu
ergriffen worden war und täuschte sich nicht über die dadurch hervorge-
rufenen Folgen. Graf Lambert gab seine Entlassung ein, wurde beurlaukt
und bald darauf durch den General Lüders ersetzt; auch Graf Wielopolski
verlangte seine Entlassung, wurde nach Petersburg beschieden und schließ-
lich gleichfalls entlassen. Erst jetzt trat in Warschau eine volle Reactien
ein. Eine ganze Reihe der angesehensten Männer, fast alle, die im März
mit Zustimmung der Regierung den Sicherheitsausschuß gebildet hatten,
wurden verhaftet und zum Theil in entfernte Festungen abgeführt. Selbst
der vom Domcapitel nach dem Tode des Erzbischof erwählte Administrator
der Erzdiöcese Bialobrzweski, eben derjenige, der den Befehl zur Schlie-
ßung der Kirchen ertheilt hatte, wurde ins Gefängniß geworfen, seine
Wahl erst nachträglich für ungiltig erklärt und er selbst kriegsgerichtlich
sogar zum Tode verurtheilt. Die Begnadigung desselben durch die Ver-
mittlung des Papstes, die Wahl eines neuen Erzbischofs und die Wieder-
eröffnung der Kirchen fallen erst in den Anfang des Jahres 1862.
In Preußen fing, sobald die Session und damit die verfassungs-
mäßige Periode des Landtags, am 5. Juni, geschlossen war, die öffentliche
Meinung an, sich zu regen und für die bevorstehenden Neuwahlen vorzu-
bereiten. Ein tiefes Gefühl des Unbefriedigtseins mit dem Gang der
innern Entwicklung seit dem Beginee der Regentschaft des nunmehrigen
Königs hatte in weiten Kreisen Platz gegriffen. Die liberale Majorität
des Abg.-Hauses hatte sich jederzeit bereit erwiesen, ihre ehnehin gemi-
ßigten Forderungen noch mehr zu ermäßigen, nur um das halbliberale
Ministerium nicht zu gefährden, da das Gespenst einer Wiederkehr des
Manteuffel'schen Regiments fortwährend noch drohend im Hintergrund zu
stehen schien; aber selbst so gemäßigt scheiterte jede Maßregel entschiedenen
Fortschritts am beharrlichen Widerstande des Herrenhauses. Die beiden
Parteien hatten sich die Wage gehalten und die innere Entwicklung war
dadurch eine so langsame geworden, daß sie einem völligen Stillstande