Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

96 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
19. März. (Deutsches Reich.) Reichstag: Zahlreiche Mitglieder der 
nationalliberalen Partei, der Fortschrittspartei und der liberalen Reichs- 
partei bringen den Entwurf eines liberalen Preßgesetzes ein. Der- 
selbe wird begründet und schließlich an eine Commission von 21 Mit- 
gliedern gewiesen. Die Regierung verhält sich dazu schweigend. 
„ (Preußen.) Abg.-Haus: erledigt auch das letzte der vier kirchen- 
politischen Gesetze, über den Austritt aus der Kirche, in zweiter Lesung. 
Gegen den Widerspruch des Führers der Ultramontanen Windthorst- 
Meppen wird beschlossen, die dritte Lesung aller vier Gesetze sofort 
auf die morgige Tagesordnung zu setzen. 
„ (Bayern.) Das Centralcomité der pfälzischen Altkatholikenge- 
meinden richtet an das Cultministerium eine Eingabe um Dotirung 
der altkatholischen Geistlichen aus Staatsmitteln und an das kgl. 
Bezirks-Amt in Kaiserslautern das Gesuch, den dortigen altkatholischen 
Geistlichen auf Grund des Gesetzes vom August 1817 in die Orts- 
schulcommission zu berufen. Eine Antwort erfolgt bis Ende d. J. nicht. 
20. „ (Preußen.) Abg.-Haus: genehmigt das Gesetz über Vorbildung 
und Anstellung von Geistlichen (mit 222 gegen 100 Stimmen), das- 
jenige über die kirchliche Disciplinargewalt und die Errichtung eines 
kgl. Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten (mit 205 gegen 119 
Stimmen) und schließlich auch noch das über die Gränzen des Rechts 
zum Gebrauche kirchlicher Straf= und Zuchtmittel in dritter Lesung. 
„ „ (Hessen.) II. Kammer: Die Regierung legt ihr den Entwurf 
eines neuen Volksschulgesetzes vor. 
Der Entwurf ist eine consequente Fortbildung des Schuledicts vom 6. Juni 
1832, welches die streitigen Schulfragen der Neuzeit im Ganzen schon nach 
den Grundsätzen der Gegenwart entschieden hatte. Er hält die Oberaussicht 
des Staates und die Leitung des gesammten Volksschulwesens durch staatliche 
Behörden entschieden fest. Die öffentlichen Volksschulen sind der Regel nach 
für gemeinsame Schulen erklärt, d. h. sie sind für die Kinder sämmtlicher 
Angehörigen einer politischen Gemeinde bestimmt, und die Kosten der Schule 
sind von der politischen Gemeinde zu tragen. Die bestehenden Confessions- 
schulen sollen nicht kraft des Gesetzes in gemeinsame Schulen umgewandelt 
werden, wohl aber wird der Weg der Umwandlung, welchen schon jenes 
Schuledict angebahnt hatte, gangbarer gemacht, so zwar, daß die Vertreter 
der politischen Gemeinde und die Schulvorstände der betheiligten Confessions- 
(Religions.) Gemeinden die Vereinigung der Schulen in gemeinsame Schulen 
beschließen können. Daß der Entwurf den gemeinsamen Schulen im übrigen 
prinzipiell den Vorzug gibt, geht daraus hervor, daß er eine Rückkehr von 
der gemeinsamen zur confessionellen Schule nicht kennt, ebensowenig die 
Gründung neuer confessionellen Schulen auf Gemeindekosten. Gleichwohl 
verfolgt der Entwurf keineswegs eine antireligiöse und kirchlich indifferente 
Richtung. Dieß zeigt sich neben der entschiedenen Fürsorge für den Reli- 
gionsunterricht, der an der Spitze der Lehrgegenstände aufgeführt wird, ins- 
esondere darin daß die Geistlichen der betreffenden Gemeinden neben dem 
Bürgermeister, dem von der Regierung bestellten Schulinspector, dem dienst- 
ältesten Lehrer und den von dem Ortsvorstande zu erwählenden Schulvor- 
stehern in den Schulvorstand berufen werden. Der Vorsitzende des Schul- 
vorstandes wird von der Kreisschulcommission ernannt, die ihrerseits aus 
 

	        
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