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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
„. ... Wähler! Die großen Ziele, welche die deutsche Fortschrittspartei
seit ihrer Gründung verfolgt hat, sind noch lange nicht erreicht. Indessen
ist manches davon schneller verwirklicht worden, als selbst wir gehofft hatten,
und wer die Lage der öffentlichen Angelegenheiten vor zwölf
Jahren mit der gegenwärtigen vergleicht, der wird zugestehen müssen,
daß die eingetretenen Veränderungen mehr unserm Programm als dem
unserer Gegner entsprechen. Der Gedanke der deutschen Einheit, den
wir von Anfang an aufgenommen und gegen Angriffe und Verdächtigungen
der damaligen Regierungspartei geschützt haben, ist jetzt in Kaiser und Reichs-
tag verkörpert. Gleichmäßige Rechtsinstitutionen, in freiheitlichem und hu-
manem Geist aufgestellt, beginnen sich über ganz Deutschland auszubreiten.
Der materielle Verkehr, fast auf allen Gebieten von hemmenden Schranken
befreit, pulsirt in einer Kraft und Lebendigkeit, welche die Sicherheit gewähren,
daß auch gewisse beunruhigende Erscheinungen des Augenblicks bald werden
überwunden werden. Aber noch fehlen den Institutionen des Reichs die
wichtigsten Bürgschaften. Selbst die Organisation der höchsten Verwal-
tungsämter im Reich kann nur als eine provisorische betrachtet werden.
Es wird langer und ernster Arbeit bedürfen, um die Lücken der Reichs-
verfassung und der Reichsgesetzgebung im Sinn einer wahrhaft constitu-
tionellen Entwicklung auszufüllen. Auch der preußische Landtag hat Fort-
schritte der Gesetzgebung zu verzeichnen, wie sie keine frühere Legislaturperiode
aufzuweisen hat. Das Budgetrecht wird regelmäßig gehandhabt, und hat
durch das Oberrechnungskammergesetz eine sichere Unterlage gewonnen. In
der Steuergesetzgebung sind die ersten Schritte auf dem Wege einer Reform
geschehen, welche einerseits eine gerechtere Vertheilung der Steuern und eine
Entlastung der am schwersten bedrückten Volksclassen, andrerseits eine den
jeweiligen Verhältnissen mehr entsprechende Bemessung der Steuerquoten her-
beiführen muß. Der Realcredit hat durch die Ordnung des Grundbuchwesens
eine neue Sicherheit erlangt. Die Nothwendigkeit einer Kräftigung der
Selbstverwaltung und einer weiteren Decentralisation wird jetzt auch officiell
zugestanden: in verschiedenen Richtungen ist schon gegenwärtig durch die
Gesetzgebung die polizeiliche und bevormundende Thätigkeit des Staats ein-
geengt worden, und die neue Kreisordnung wird sicherlich das Verdienst haben,
die Schranken des Feudalismus niedergebrochen und den thätigen Elementen
des Volkes in der Verwaltung des Kreises freie Bahn geöffnet zu haben.
Schließlich sind auch auf dem Gebiete der humanen und individuellen Ent-
wicklung einige goße Schritte vorwärts gethan. Die Schulregulative sind
gefallen. Unter der entscheidenden Mitwirkung unserer Partei hat die Re-
gierung das Gesetz über die Schulaufsichtsbehörden durchgesetzt, und in der
langen Reihe der Kirchengesetze wird der definitive Bruch mit jenem
verwerflichen System der gegenseitigen Versicherung zwischen
der Beamtenherrschaft im Staat und der Priesterherrschaft in der
Kirche, welches so lange unsere Entwicklung darniedergehalten hat, besiegelt
werden. Es gibt wenige unter diesen Gestaltungen, welchen unsere Partei
ohne Bedenken ihre Zustimmung ertheilen konnte. Sie hat seiner Zeit ver-
sucht, diejenigen Abänderungen der Gesetze zu erzielen, welche sie für erfor-
derlich hielt. Aber obwohl sie dabei nur zu oft unterlegen ist, so hat sie
es doch als eine Nothwendigkeit erkannt, im Verein mit den anderen
liberalen Parteien die Regierung in einem Kampfe zu unterstützen, der
mit jedem Tage mehr den Charakter eines großen Culturkampfes
der Menschheit annimmt. Die Fortschrittspartei ist darum keine Regie-
rungspartei geworden. Sie ist eine Partei unabhängiger Männer, welche
keinerlei Verpflichtungen gegen die Regierung oder gegen einzelne Mitglieder
derselben haben. Ihr Programm war und ist ein rein sachliches. Aber sie
wird über ihren einzelnen Forderungen nie vergessen, daß es die höchste Auf-
gabe des Staats ist, seinen Bürgern innerhalb der gesetzlichen Schranken