Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
„. ... Wähler! Die großen Ziele, welche die deutsche Fortschrittspartei 
seit ihrer Gründung verfolgt hat, sind noch lange nicht erreicht. Indessen 
ist manches davon schneller verwirklicht worden, als selbst wir gehofft hatten, 
und wer die Lage der öffentlichen Angelegenheiten vor zwölf 
Jahren mit der gegenwärtigen vergleicht, der wird zugestehen müssen, 
daß die eingetretenen Veränderungen mehr unserm Programm als dem 
unserer Gegner entsprechen. Der Gedanke der deutschen Einheit, den 
wir von Anfang an aufgenommen und gegen Angriffe und Verdächtigungen 
der damaligen Regierungspartei geschützt haben, ist jetzt in Kaiser und Reichs- 
tag verkörpert. Gleichmäßige Rechtsinstitutionen, in freiheitlichem und hu- 
manem Geist aufgestellt, beginnen sich über ganz Deutschland auszubreiten. 
Der materielle Verkehr, fast auf allen Gebieten von hemmenden Schranken 
befreit, pulsirt in einer Kraft und Lebendigkeit, welche die Sicherheit gewähren, 
daß auch gewisse beunruhigende Erscheinungen des Augenblicks bald werden 
überwunden werden. Aber noch fehlen den Institutionen des Reichs die 
wichtigsten Bürgschaften. Selbst die Organisation der höchsten Verwal- 
tungsämter im Reich kann nur als eine provisorische betrachtet werden. 
Es wird langer und ernster Arbeit bedürfen, um die Lücken der Reichs- 
verfassung und der Reichsgesetzgebung im Sinn einer wahrhaft constitu- 
tionellen Entwicklung auszufüllen. Auch der preußische Landtag hat Fort- 
schritte der Gesetzgebung zu verzeichnen, wie sie keine frühere Legislaturperiode 
aufzuweisen hat. Das Budgetrecht wird regelmäßig gehandhabt, und hat 
durch das Oberrechnungskammergesetz eine sichere Unterlage gewonnen. In 
der Steuergesetzgebung sind die ersten Schritte auf dem Wege einer Reform 
geschehen, welche einerseits eine gerechtere Vertheilung der Steuern und eine 
Entlastung der am schwersten bedrückten Volksclassen, andrerseits eine den 
jeweiligen Verhältnissen mehr entsprechende Bemessung der Steuerquoten her- 
beiführen muß. Der Realcredit hat durch die Ordnung des Grundbuchwesens 
eine neue Sicherheit erlangt. Die Nothwendigkeit einer Kräftigung der 
Selbstverwaltung und einer weiteren Decentralisation wird jetzt auch officiell 
zugestanden: in verschiedenen Richtungen ist schon gegenwärtig durch die 
Gesetzgebung die polizeiliche und bevormundende Thätigkeit des Staats ein- 
geengt worden, und die neue Kreisordnung wird sicherlich das Verdienst haben, 
die Schranken des Feudalismus niedergebrochen und den thätigen Elementen 
des Volkes in der Verwaltung des Kreises freie Bahn geöffnet zu haben. 
Schließlich sind auch auf dem Gebiete der humanen und individuellen Ent- 
wicklung einige goße Schritte vorwärts gethan. Die Schulregulative sind 
gefallen. Unter der entscheidenden Mitwirkung unserer Partei hat die Re- 
gierung das Gesetz über die Schulaufsichtsbehörden durchgesetzt, und in der 
langen Reihe der Kirchengesetze wird der definitive Bruch mit jenem 
verwerflichen System der gegenseitigen Versicherung zwischen 
der Beamtenherrschaft im Staat und der Priesterherrschaft in der 
Kirche, welches so lange unsere Entwicklung darniedergehalten hat, besiegelt 
werden. Es gibt wenige unter diesen Gestaltungen, welchen unsere Partei 
ohne Bedenken ihre Zustimmung ertheilen konnte. Sie hat seiner Zeit ver- 
sucht, diejenigen Abänderungen der Gesetze zu erzielen, welche sie für erfor- 
derlich hielt. Aber obwohl sie dabei nur zu oft unterlegen ist, so hat sie 
es doch als eine Nothwendigkeit erkannt, im Verein mit den anderen 
liberalen Parteien die Regierung in einem Kampfe zu unterstützen, der 
mit jedem Tage mehr den Charakter eines großen Culturkampfes 
der Menschheit annimmt. Die Fortschrittspartei ist darum keine Regie- 
rungspartei geworden. Sie ist eine Partei unabhängiger Männer, welche 
keinerlei Verpflichtungen gegen die Regierung oder gegen einzelne Mitglieder 
derselben haben. Ihr Programm war und ist ein rein sachliches. Aber sie 
wird über ihren einzelnen Forderungen nie vergessen, daß es die höchste Auf- 
gabe des Staats ist, seinen Bürgern innerhalb der gesetzlichen Schranken