Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 115 
standsregister an bürgerliche Beamte für dringend nothwendig erklärte. Die 
auf dem Münchener Congreß offen bekannte Absicht einer Union aller christ- 
lichen Theilkirchen hatte bis zum Beginn des Kölner Congresses insofern 
Erfolg, daß dieselbe Absicht auch innerhalb verschiedener christlicher Con- 
fessionen laut wurde, so von Seiten der russischen Kirche durch den Verein 
der Freunde geistlicher Aufklärung in Petersburg, von Seiten der bischöf- 
lichen Kirchen in England und Amerika durch die Bischöfe von Lincoln, Ely 
und Maryland. Der altkatholische Erzbischof von Utrecht war inzwischen 
sogar in die directeste Beziehung zur altkatholischen Bewegung in Deutsch- 
land getreten, indem er zu München, Kiefersfelden, Mering, Kempten, Landau, 
Kaiserslautern und Zweibrücken die Firmung Kindern altkatholischer Familien 
spendete. Alle diese Kirchen und auch die deutsch-protestantische waren auf 
dem Kölner Congreß vertreten — lebendige Zeugen der Sympathien, welche 
diese Kirchen den Bestrebungen der Altkatholiken entgegenbringen. Der Erz- 
bischof von Syra und Tenos in einem Schreiben und der Patriarch der 
armenischen Kirche in einem Telegramm gaben gleichfalls ihrer freundschaft- 
lichen Gesinnung Ausdruck. Der Congreß selbst aber, aufgemuntert durch 
solche Zeichen der Zeit, ernannte zur Förderung dieser gegenseitigen versöhn- 
lichen Stimmung der christlichen Confessionen eine eigene Commission mit 
dem Auftrag: sich mit den bereits bestehenden oder sich bildenden Vereinen 
zur Hebung der kirchlichen Spaltung in Verbindung zu setzen; die Differenz- 
punkte kritisch zu untersuchen und die Möglichkeit ihrer Beseitigung zu er- 
wägen; endlich durch populäre Schriften das Verständniß und Interesse für 
die wünschenswerthe Verständigung in weitern Kreisen zu wecken und zu 
erhalten. Zur Durchführung der kath. Reformbewegung bestehen 
dermalen vier Centralcomité's: eines in Köln für Norddeutschland, eines in 
München für Süddeutschland, eines für Oesterreich in Wien, eines für die 
Schweiz in Solothurn. Als das wirksamste Mittel einer dauernden Organi- 
sation erklärte der Congreß die Gemeindebildung, und den Centralcomité's 
wurde es zur besonderen Pflicht gemacht, die Gemeindebildung an denjenigen 
Orten, wo die Verhältnisse dazu angethan sind, nach Kräften zu fördern. 
Weil aber die Gemeinden selbst nur gedeihlich sich entwickeln und gesichert 
bestehen können, wenn sie sich unter dem Schutz eines Bischofs wissen, be- 
schloß der Congreß die Wahl eines Bischofs, und ernannte er eine Com- 
mission, um die Wahl eines oder mehrerer Bischöfe vorzubereiten. Für den 
Fall endlich, daß Meinungsverschiedenheiten in kirchlichen Fragen eintreten 
sollten, wurde derselben Commission bis zum nächsten Congreß das Recht 
richterlicher Entscheidung eingeräumt. Was die Verbreitung der Ideen 
der katholischen Reformbewegung betrifft, so kann dieselbe eine um- 
fassende genannt werden. Es ist nicht zu viel behauptet, daß, so weit der 
deutsche Geist reicht, die Katholiken nicht an das neue Dogma glauben und 
Feinde des Ultramontanismus sind. Wenn Döllinger bezüglich seiner Be- 
auptung, daß Tausende im Clerus nicht an die neuen Dogmen glauben, 
durch erzwungene Proteste factisch Lügen gestraft wurde, so hatte er doch nur 
die Wahrheit gesprochen; denn der deutsche Clerus glaubt sie nicht; aber 
die Sorge um's tägliche Brod zwang ihm eine äußerliche Unterwerfung ab. 
Die Rede, welche Cardinal Rauscher im Herrenhause des österreichischen 
Reichsraths am 28. Jan. d. J. gehalten, ist ein sprechendes Zeugniß dafür, 
daß bloß äußerlich Unterworfene in erregten Momenten gar ketzerisch klin- 
gende Reden führen. Die Meisten im Clerus glauben nicht an den Bestand 
der neuen Dogmen und sie halten ihre Gewissensbisse durch die Hoffnung 
nieder, daß mit dem Tod dieses Papstes auch die Herrschaft dieser Decrete 
zu Ende gehen werde. Daß das materielle Interesse, die Existenzbedürftigkeit 
bei der schmachvollen Unterwerfung des Clerus eine große Rolle gespielt hat, 
darüber — so sprach Prof. Reinkens auf dem Kölner Congreß — hat sich 
sofort eine öffentliche Meinung gebildet, welche keine Proteste jemals aus 
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