Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
der Weltgeschichte bringen werden. Wären wir heute — fuhr er fort 
in der Lage, Tausenden von Priestern die Existenz sichern zu können, wir 
würden bald viel weiter sein. Allein dies materielle Interesse hält nicht 
bloß die Geistlichen von uns zurück, auch Hunderttausende von Laien. Hiezu 
kommt noch die nicht zu controlirende und nicht zu bekämpfende unheimliche 
Macht der unterworfenen Priester im Beichtstuhl über die Frauen, welchen 
Versprechungen und Aufgaben für die Familie aufgezwungen werden, deren 
Ende ist, daß sie auf immer den häuslichen Frieden verlieren und daß ihre 
Männer sich zwar unterwerfen, aber auch moralisch sich vernichten. — Und 
trotzdem hat die Bewegung immer tiefere Wurzel geschlagen und auch räum- 
lich zusehends an Ausdehnung gewonnen. Actionsherde der Bewegung findet 
man hoch im deutschen Norden mit Pfarrer Grunert in Königsberg und 
Dr. Wollmann in Braunsberg; in preußisch Schlesien ist Pfarrer Kaminski 
für Kattowitz und viele umliegende Orte der Leiter der Bewegung. In 
Oesterreich sind vor Allen die Wiener Gemeinde mit Pfarrer Dr. Kürziner, 
die Warnsdorfer mit Dr. Nittel und die Rieder mit Dr. Brader, sodann 
die Gemeinden Steyer und Gloppnitz zu bezeichnen. Unter den ungarischen 
Geistlichen, welche nicht an die Unfehlbarkeit glauben, tritt am offensten 
Prof. Dr. Hatala in Pest auf. Der Nichtglaube an das Unfehlbarkeitsdogma 
ist aber in Oesterreich viel verbreiteter, als es hiernach den Anschein haben 
möchte. Hiefür dürfen gewiß die vielen mit zahlreichen Unterschriften ver- 
sehenen Zustimmungsadressen an Stiftsprobst v. Döllinger als Zeugnisse 
aufgeführt werden. Noch rühriger geht es am Rhein zu, wo namentlich sich 
die Städte Köln, Bonn, Koblenz, Crefeld, Uerdingen-Boppard, Witten in 
Westphalen u. s. w. hervorthun. In Köln wirkt Pfarrer Tangermann, in 
Bonn, sowie Rhein auf= und abwärts wirken die Professoren Knoodt, Langen 
und Neusch als Prediger und Seelsorger, in Crefeld ist nunmehr an Stelle 
des Prof. Herzog der bisherige Caplan, Hr. Rabbertz, zu Gürzenich bei 
Düren getreten. Neuestens hat auch Caplan Hr. Joh. Paffrath in Burt- 
scheid seinem Bischof (Melchers) eine offene Erklärung zugesendet, die Stelle 
aufgegeben und sich dem Kölner Centralcomité für kathol. Reformbewegung 
zur Disposition gestellt. Die 15 Gemeinden der Rheinpfalz, deren größte 
Zweibrücken, Kaiserslautern, Landau und Neustadt a. H. sind, nebst der 
altkathl. Gemeinde zu Wiesbaden haben bis heute freilich nur einen einzigen 
Seelsorger in Pfarrer P. Kühn. Neuestens haben sich in Offenbach am 
Main, in Oberstein und Wadern altkatholische Gemeinden gebildet. Der 
Vorort für Würtemberg ist Stuttgart; der Vorort für Baden ist Heidelberg. 
In Baden namentlich gehen dermalen die Wogen der Bewegung hoch, indem 
Prof. Michelis dasselbe in neuester Zeit gleichsam als Missionär durchzogen 
hat. Derselbe hielt im Monat Februar zu Offenburg und zu Heidelberg 
Gottesdienst, hielt Vorträge zu Steinbach, Mannheim, Freiburg und Constanz 
und organisirte in letzterer Stadt nach der folgenreichen Versammlung am 
8. Febr. die Seelsorge und den Gottesdienst. Zu den ältesten Herden der 
altkatholischen Bewegung in Baden zählt noch Pforzheim. Ueber die alt— 
katholische Bewegung in der Schweiz hat Ihnen in der letzten Versammlung 
Prof. Reinkens eingehenden Bericht erstattet. Hier wird der Kampf nament- 
lich auf politischem Boden geführt. Die altkatholische Seelsorge pflegen für 
die über die ganze Schweiz zerstreute altkath. Bevölkerung nur drei Geist- 
liche: die Pfarrer Dr. Herzog, Gschwind und Egli. Im diesseitigen Bayern 
sind in der Seelsorge thätig: Dr. Thürlings in Kempten und verschiedenen 
anderen Orten des Allgäu; Pfarrer Renftle und Caplan Simes in Mering; 
die Prof. Friedrich und Meßmer, Weltpriester Haßler und Redacteur Hirsch- 
wälder in München, denen zur Zeit ein weites Feld der Seelsorge offen 
steht. Ich will nur Simbach a. I., wo die altkatholischen Gemeinden den 
Bau einer eigenen Kirche in Aussicht genommen haben, Neunburg v. W., 
Hof, Bayreuth, Nürnberg, Erlangen, Baunach, Gunzenhausen, Nördlingen