Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
schen Clerus ist, seltene Ausnahmen vielleicht abgerechnet, ein legaler Wider- 
stand zu erwarten. Geßler's Hut nicht zu grüßen, hat Wilhelm Tell Ehre 
eingetragen, aber die Mehrheit des Hauses scheint dem neuen Geßler blind 
zu gehorchen. Diese Mehrheit macht auf die übrige Welt den Eindruck, als 
besorge sie die Geschäfte des omnipotenten Staates oder der Revolution, je 
nachdem man ihre wahre Mission deuten will. 
10. Mai. (Deutsches Reich.) Bundesrath: beräth das von Preußen 
ihm vorgelegte Reichsmilitärgesetz, um dasselbe schnellstens im Reichs- 
tage als Vorlage einzubringen, und genehmigt das dem Reichstage 
vorzulegende Budget für 1874. 
Dasselbe schließt in Einnahme und Ausgabe mit 140,284,424 Thlrn. 
ab, also gegen 1873 mehr 21,443,935 Thlr. Da die Mehrausgaben fast 
ausschließlich aus der französischen Kriegscontribution gedeckt werden, so sind 
die aus den laufenden Einnahmen der Reichskasse zu deckenden Ausgaben 
dadurch nicht berührt. Der durch Matricularbeiträge zu deckende Betrag 
beläuft sich für 1874 auf 23,439,616 Thlr. (1873 24,647,867 Thlr.) Der 
Ueberschuß im Reichshaushalt pro 1872 hat 13 Millionen Thaler betragen. 
Derselbe wird aber durch die in Aussicht genommenen Erhöhungen der Militär- 
und Marineausgaben vollständig erschöpft, so daß auch trotz der Steigerung 
der Einnahmen aus Zöllen und Verbrauchssteuern für 1874 nur die be- 
scheidene Summe von 1,200,000 Thlr. übrig bleibt, welche zur Verminderung 
der Matricularbeiträge verwendet werden soll. 
10.—13. „ (Preußen.) Abg.-Haus: genehmigt das ihm vorgelegte 
 
Gesetz betr. Verbot der Theilnahme von Staatsbeamteten an der Ver- 
waltung von Erwerbsgesellschaften und dehnt dasselbe trotz der Ab— 
mahnungen der Regierung auch auf solche Beamte aus, welche bereits 
an der Verwaltung solcher Gesellschaften betheiligt sind. 
„ (Preußen.) Die Versammlung des Landesausschusses der national- 
liberalen Partei in Berlin, an der etwa 200 Parteimitglieder, wo- 
runter viele Mitglieder des Reichstags und des preußischen Landtags 
Theil nehmen, setzt den Wahlaufruf (Wahlprogramm) der Partei nach 
einem Entwurfe Lasker's fest. 
In der vorangehenden Debatte hebt Lasker hervor, es gelte namentlich, 
zu betonen, daß der Staat kräftig und mächtig sein müsse, kräftig und mäch- 
tig im Dienste der Freiheit. Denjenigen gegenüber, welche diese Kraft und 
Macht verkümmern möchten, müßten alle die freiheitliche Entwickelung an- 
strebenden Parteien einig sein. Eine Verschmelzung mit den Conservativen 
in den Principien werde kein Liberaler befürworten, darum aber dürfe man 
ein örtliches Zusammengehen mit denselben gegen die gemeinsamen Gegner 
nicht von der Hand weisen. Vor Allem aber müsse Fühlung gewonnen wer- 
den mit der Fortschrittspartei. 
11.   „ (Deutsches Reich.) Bundesrath: Bayern, unzufrieden darüber, 
daß die Vorlagen dem Bundesrath immer fix und fertig von der 
preuß. Regierung vorbereitet zugehen, trägt darauf an, 
„daß künftig die Entwürfe zu Reichsgesetzen, insbesondere zu solchen, 
welche auf Grund der Reichsverfassung oder in Ausführung anderer Reichs- 
gesetze erforderlich erscheinen, nach vorgängiger Vernehmung der verbündeten 
Regierungen im Reichskanzleramte oder auf dessen Veranlassung zu fertigen 
seien und in den dazu geeigneten wichtigeren Fällen den Regierungen die 
Möglichkeit offen zu halten sei, schon in dem Vorbereitungsstadium solcher 
Gesetze an der Abfassung derselben mitzuwirken.“