Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

138 
Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 
Kirchengesellschaften durch § 166 des beutschen Strafgesetzbuches garantirten 
Rechtsschutzes. Die erste Instanz sowohl, als auch die zweite, der rheinische 
Appellhof, wiesen die Klage als unbegründet zurück, indem sie erklärten, 
daß der genannte Strafgesetzbuch-Paragraph hier keine Anwendung finden 
könne. Denn zu den vom Staate anerkannten christlichen Kirchen, die das 
Gesetz im Auge haben, gehöre außer der evangelischen nur noch die römisch- 
katholische Kirche. Diese aber sei diejenige, welche in dem Papst zu Rom 
ihr geistliches Oberhaupt erkenne, und in Preußen durch die in ihrer Wirk- 
samkeit staatlich anerkannten Landesbischöfe repräsentirt werde. Die katho- 
lische Kirche bestehe gegenwärtig noch in ihrer Organisation in Haupt und 
Gliedern. Dagegen vermögen die sogenannten Altkatholiken, indem sie den 
Beschlüssen des vaticanischen Concils ihre Anerkennung versagten, ohne Mit- 
wirkung ihres bisherigen Oberhauptes sich zu Gemeinden constituirten und 
einen abgesonderten Cultus ausübten, sich im Lehrbegriffe sowohl als in der 
Disciplin von der römisch-katholischen Kirche trennten, diese nicht weiter zu 
repräsentiren, sondern bilden vielmehr eine neue Religionsgesellschaft, welche 
die staatliche Anerkennung erst zu erlangen habe. Diese Deduction nun wird 
vom Obertribunal nicht anerkannt und dem appellgerichtlichen Erkenntniß 
die Zustimmung versagt und sogar ausgesprochen, dasselbe habe die Grenzen 
verkannt, innerbalb welchen sich die zur Anwendung der Staatsgesetze be- 
rufenen Gerichte zu bewegen haben. Denn der Streit darüber, so führt das 
Obertribunal aus, welche Lehren einer Kirche dergestalt wesentlich sind, daß 
ihre Anerkennung die Bedingung der Angehörigkeit zu dieser Kirche bildet 
sei auf kirchlichem Gebiete, und zwar mit einer auf dieses Gebiet beschränkten 
Wirkung zum Austrag zu bringen. Dies gelte insbesondere in dem Falle, 
wenn über die Ausdehnung der nach der wahren Lehre der Kirche den Or- 
ganen der kirchlichen Gewalt zustehenden Machtbefugnisse gestritten wird, und 
in Folge der sich gegenüberstehenden Auffassungen der eine der streitenden 
Theile sich in die Lage versetzt sieht, einen seiner Auffassung entsprechenden 
abgesonderten Cultus auszuüben. Ein Gerichtshof habe nicht die Befugniß, 
aus lediglich dem kirchlichen Gebiete angehörenden Gründen zu entscheiden, 
daß die sog. Altkatholiken sich von der römisch-katholischen Kirche getrennt 
haben; er habe vielmehr, da es sich um den Schutz handelt, welchen die 
Staatsgesetzgebung den christlichen Kirchen gewährt, sich auf die Entscheidung 
der Frage zu beschränken, ob nach den Gesetzen des Staates die durch letzteren 
erfolgte Anerkennung der katholischen Kirche zu Gunsten der sog. Altkatho- 
liken angerufen werden kann oder nicht. Eine Erklärung des Austrittes aus 
der katholischen Kirche seitens der sog. Altkatholiken sei aber nicht erfolgt. 
Von denselben werde vielmehr ihre volle Zugehörigkeit zu der katholischen 
Kirche behauptet, und das nach dem Beschlusse des vaticanischen Concils von 
anderen Angehörigen der katholischen Kirche adoptirte Dogma von der päpst- 
lichen Unfehlbarkeit als eine Irrlehre bezeichnet, in dessen Annahme der 
Abfall dieses Theiles der Katholiken von ihrer Kirche gefunden werden müsse. 
Der Staat habe seine Anerkennung der katholischen Kirche nicht an die 
Bedingung geknüpft, daß von den Angehörigen derselben irgend eine Lehre 
und insbesondere die von der Bedeutung der Beschlüsse eines den Umfang 
der päpstlichen Gewalt definirenden Concils als Glaubenslehre anerkannt 
werde; und wenn aufgestellt wird: der Staat habe mit der Anerkennung der 
katholischen Kirche zugleich deren Organisation und demnach auch die Be- 
deutung der Aussprüche anerkannt, welche von den Organen der kirchlichen 
Gewalt ausgingen, so werde hiebei übersehen, daß die Anerkennung der kirch- 
lichen Organisation und deren Consequenzen sich auf das kirchliche Gebiet 
beschränke, da auf dem staatlichen Gebiete Beschlüsse nicht für bindend er- 
achtet werden können, auf welche der Staat in keiner Weise eine Einwirkung 
auszuüben hat. Das Obertribunal bezeichnet also die Entscheidung des 
rheinischen Appellhofes als „eine nicht vom richterlichen, sondern von einem