Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 143
deren Ausführung den königlichen Behörden allein zusteht, im Interesse der
Kirche soweit möglich eine vertrauliche Verständigung mit den Kirchenbe-
hörden stattfinde. Von dieser Rücksichtnahme wird die Staatsregierung erst
dann abgehen, wenn das Verhalten der Bischöfe in den einzelnen Fällen
erkennen läßt, daß sie auf die ihnen ermöglichte Wahrung des kirchlichen
Interesses thatsächlich verzichten. Das weitere Vorgehen zur Erreichung des
Ziels ohne die Bischöfe, und soweit erforderlich, ihnen gegenüber wird sich
alsdann aus den Gesetzen selbst ergeben. Wenn die Bischöfe sich außer Stande
erklären, zum Vollzuge der Gesetze mitzuwirken, — so werden sie um so mehr
in der Nothwendigkeit sein, sich den Folgen der Gesetze zu fügen und zu
unterwerfen. Sie werden sich dabei nicht verhehlen können, daß sie durch
ihr Verhalten Gefahr laufen, die höchsten inneren Interessen der Kirche selbst
ihrerseits aufs Spiel zu setzen. Nicht die Staatsregierung, sondern die kirch-
lichen Gewalten haben die Gewissenspflicht, noch einmal zu überlegen, in
welche Lage die Kirche, die Priester und die Gläubigen durch einen wirklichen
thatsächlichen Widerstand gegen die Gesetze kommen können. Die Gesetze, wie
sie festgestellt sind, lassen das innere kirchliche Leben, die Verkündigung der
kirchlichen Glaubens= und Sittenlehre, die Spendung der kirchlichen Heils-
mittel und die Handhabung der Kirchenzucht, soweit sie sich auf dem reli-
giösen Gebiete bewegt und nicht auf das bürgerliche Gebiet hinübergreift,
absolut frei und unberührt. Auch bei der Durchführung der Gesetze liegt
unserer Regierung nach allen ihren Ueberlieferungen und Erklärungen „eine
rücksichtslose Anwendung der bürgerlichen Gewalt“ sicherlich fern; wenn es
dazu kommen müßte, so könnte es nur durch ein rücksichtsloses und revolu-
tionäres Auftreten der Bischöfe berbeigeführt sein. Die Staatsregierung
weiß sehr wohl, daß sie, auch wenn der Kampf seitens der Kirche auf die
Spitze getrieben wird, Bischöfe und Priester höchstens an der Ausübung ihrer
Functionen hindern, nicht aber, wie von ultramontaner Seite hervorgehoben
wird, irgend ein kirchliches Amt besetzen kann. Die Regierung hat diese
Befugniß niemals erstrebt und würde sie nimmer üben wollen; — was sie
will und durchführen wird, ist, daß seitens der Kirche geistliche Aemter nur
Deutschen und nur Männern übertragen werden dürfen, welche die für ihren
Beruf erforderliche allgemeine Bildung besitzen und von denen zu erwarten
ist, daß sie die wahren Staatsgesetze achten und den öffentlichen Frieden
wollen. Wollten die Bischöfe diesen und ähnlichen Forderungen der neuen
Gesetze, welche mit dem kirchlichen Glauben und mit der Spendung der
Gnadengaben in der Kirche nicht das Mindeste zu thun haben, und welche
nach ihrem eigenen Geständnisse in anderen Staaten vom Papst selbst an-
erkannt sind, sich trotzdem thatsächlich widersetzen und dadurch die Uebung
des kirchlichen Dienstes hie und da zum Stillstande bringen, so werden die
Bischöfe und nicht die Staatsregierung „sich auch auf eine Antwort vorbe-
reiten müssen, wenn Katholiken vergeblich nach der Spendung der Gnaden-
gaben ihrer Kirche verlangen.“
1. Juni. (Deutsches Reich.) Reichstag: Ein zwischen den verschiedenen
Fractionen stattgefundener Austausch der Meinungen ergibt, daß die
weitüberwiegende Mehrheit des Reichstags es entschieden für unmöglich
hält, das Reichsmilitärgesetz noch in dieser Session zu erledigen, da
die Verhandlungen über diese Frage, über welche so verschiedene An-
sichten obwalten, jedenfalls einer gründlichen Behandlung nicht entzogen
werden dürfen.
„ (Preußen.) 80 der streng orthodoxen Ansicht huldigende evang.-
lutherische Männer laden auf Ende August zu einer großen lutherischen