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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
denken, welche als die unausbleibliche Folge einer solchen Maßregel mir klar
vor der Seele stehen: gleichwohl erscheint mir die prinzipielle Beeinträchtigung
der Freiheit und Selbständigkeit der Kirche in der Erziehung ihres Clerus
doch noch als das größere Uebel. Hierzu irgend mitzuwirken, würde ich als
einen Verrath an meinem Hirtenamte ansehen und als eine eidbrüchige Ver—
letzung der Treue, die ich bei Uebernahme dieses Amtes feierlich vor Gott
und der Welt, auch Angesichts der staatlichen Behörden, der Kirche ange-
logt habe.“
6. Juni. (Bayern.) Entgegen der Ordre des Generalcommandos vom
27. v. M. befiehlt der König, daß Ausrückungen der Truppen am
Fronleichnamstag in allen Garnisonen stattfinden sollen. Die ultra-
montanen Blätter äußern sich darüber ungemein befriedigt.
7. „ (Mecklenburg.) Der Großherzog hält gelegentlich einer land-
wirthschaftlichen Ausstellung in Wismar einen demonstrativen Toast
gegen den vom Reichstag gefaßten Beschluß Büsing betr. die Einfüh-
rung einer constitutionellen Verfassung auch in Mecklenburg:
„Ich will Ihr Hoch erwidern durch ein Hoch auf unser geliebtes mecklen-
bureisches Vaterland. Wir leben in einer ernsten Zeit, und es mag gut
sein, daß wir uns darüber einmal aussprechen. Wir suchen neue Formen
für unsere öffentlichen Verhältnisse. Das Ziel ist klar: staatliche Heraus-
bildung derselben. Aber der Wege dahin gibt es verschiedene, und es wird
wohl keinen geben, der Allen gefällt. Ziel und Weg aber müssen sein nach
Mecklenburger Art. Der Rock, den wir tragen sollen, muß uns auch passen.
Darum wollen wir ihn uns selber und auch allein machen. Mecklenburg
steht treu und fest zum deutschen Reich und Vaterland. Das hat es mit der
That bewiesen. Darum hat es auch das Recht, hoch zu halten seine eigene Art.“
8. „ (Deutsches Reich.) Reichstag: Delegirte der verschiedenen Fractio-
nen vereinbaren sich mit der Regierung, daß die Arbeiten des Reichs-
tags auf das Budget für 1874, das Münzgesetz, das Papiergeldgesetz
und die Einführung der Reichsverfassung in Elsaß-Lothringen beschränkt
werden, um ihn bis gegen Ende Juni zu schließen. Die Idee einer
Herbstsession ist ziemlich allseitig aufgegeben.
9. „ (Deutsches Reich.) Reichstag: Bei Gelegenheit der Etatsbe-
rathung trägt Löwe darauf an, die Position für eine Gesandtschaft
beim hl. Stuhle zu streichen. Der Reichskanzler spricht sich dagegen
aus. Bei der Abstimmung wird die Position nur gegen eine starke
Minorität (bestehend aus der Fortschrittspartei, dem weitaus größten
Theile der Nationalliberalen und einem Theile der liberalen Reichs-
partei) angenommen.
Bismarck: erklärt, er möchte einen Faden, der sich wieder anknüpfen
lasse, doch nicht gerne abschneiden, eine Fühlung, die im Augenllick aller-
dings factisch erloschen sei, nicht vollständig zu den Todten werfen, und fügt
dann bei: Der Abg. Reichensperger schien anzudeuten, daß der Gedanke Löwe's,
bei Gelegenheit einen Commissär nach Rom zu schicken, vorzugsweise mit der
Aussicht auf eine Papstwahl zusammenhängt. Ich muß hierauf in so weit
antworten, daß nicht aus meinem Stillschweigen angenommen werde, die
Reichsregierung habe dieselbe Ansicht. Wir werden uns jeder Einwirkung
auf die Papstwahl enthalten, und sie gar nicht versuchen. Es ist im
Interesse des öffentlichen Friedens ja sehr wünschenswerth, daß die Papst-
wahl im Sinne der Mäßigung ausfällt, daß man nicht gerade die zornige