Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 161
Der Kaiser ernennt die Mitglieder des nunmehrigen Gesammtconsi=
storiums für Hessen zu Cassel. Die ultra-orthodoxe Partei der sog.
Vilmarianer erklärt, dasselbe nicht anerkennen und demselben nicht ge-
horchen zu können.
Eine Verfügung des Oberpräsidenten verordnet, daß die Gehalte der
Domherren etc. künftig nicht mehr durch die Bischöfe bei den Staats-
kassen erhoben, sondern von diesen directe an die Gehaltsempfänger
ausbezahlt werden sollen.
In Posen weisen die Landrathsämter im Auftrage der Regierung
die kath. Pfarrgeistlichkeit an, alle kirchlichen Atteste, wie Tauf-, Trau-
und Todtenscheine künftig in deutscher Sprache auszustellen, statt wie
bisher theils in lateinischer, theils in polnischer Sprache.
30. Juni. (Sachsen.) Das „ kath. Kirchenblatt“ für Sachsen erklärt, die
Verkündigung der päpstlichen Infallibilität sei zwar von der Regierung
nicht gestattet, das Dogma sei aber doch rite promulgirt worden durch
die Veröffentlichung des Hirtenschreibens der deutschen Bischöfe, das
sie mit enthalten habe.
1. Juli. (Preußen.) Die ultramontane Mehrheit der schlesischen Mal-
teser-Ritter demonstrirt gelegentlich der Neuwahl des Vorstandes gegen
den Herzog von Ratibor um seiner Staatskatholikenadresse willen.
Der Herzog, seit Jahren Vorsitzender des Vereins, der für denselben leb-
haft thätig gewesen war und ihm auch Corporationsrechte verschafft hatte,
wird nicht mehr zum Vorsitzenden und nicht einmal in den Vorstand ge-
wählt, dieser vielmehr ausschließlich ultramontan zusammengesetzt. Der Herzog
von Ratibor und eine Anzahl anderer Mitglieder erklären sofort ihren Aus-
tritt aus dem Verein.
„ (Preußen.) Der Regens des Clericalseminars in Pelplin (Diö-
cese Culm) Dr. W. Martens verlangt und erhält vom Bischof seine
Entlassung unter Verzichtleistung auf alle und jede Benefizien, weil
er mit dem Widerstande der Bischöfe gegen die Maigesetze nicht ein-
verstanden ist.
Der Bischof hatte Martens aufgegeben, den neu aufzunehmenden Zög-
lingen Eröffnungen zu machen, welche den Fuldaer Beschlüssen der Bischöfe
entsprachen und ein Widerstreben gegen die Maigesetze in Betreff der Staats-
prüfungen enthielten. Martens — ein strenggläubiger Katholik, der auch
der Glaubenslehre der päpstlichen Unfehlbarkeit anhängt — fand in diesem
alle eine Auflehnung gegen das Staatsgesetz, dem zu gehorchen die katho-
ische Religion gebiete, und glaubte deßhalb sich dem verlangten Mitwirken
zum Widerstreben gegen jene Gesetze nicht fügen zu können, um so weniger,
als jene Gesetze weder die katholische Glaubenslehre noch die
Sittenlehre berühren oder verletzen, wie er dies bei seinem Ent-
lassungsgesuche auseinandersetzte. Um dem Widerstreite seiner Pflichten des
Gehorsams gegen seinen Bischof und gegen das Staatsgesetz zu entgehen,
erbat Martens seine Entlassung.
2. Juli. (Preußen.) Der Oberkirchenrath hebt das Urtheil des Con-
sistoriums der Provinz Brandenburg gegen den Prediger Sydow in
Berlin auf und ändert das Absetzungsdecret dahin ab, daß demselben
bloß ein geschärfter Verweis zu ertheilen sei.
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