Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 183
Kirche verhalte, wie etwa eine preußische Republik sich zur preußischen Mo-
narchie verhalten würde. General-Superintendent Büchsel: Der Staat habe
bei Einführung der Gesetze die Kirche nicht befragt und werde sie auch bei
Ausführung derselben nicht fragen. Darum seien für ihn die Vorträge und
Thesen von gar keiner Bedeutung. Vielen Pastoren sitze die Noth der Zeit
im Kopfe, aber nicht im Herzen, sie reden viel, aber beten wenig. Keine
politische Agitation, sondern Agitation gegen den alten bösen Feind im
Innern! Superintendent Lengerich aus Demming hat s. Z. die Bitte an den
Kaiser gerichtet, die Kirche mit diesen Gesetzen zu verschonen; jetzt sei aber die
Zeit der Kritik vorüber, und man müsse gehorchen, soweit nicht Gewissensnoth
eintritt, um so mehr als die lutherische Kirche von jeher den Grundsatz be-
tonte: „Seid unterthan der Obrigkeit!" Man solle nur dem Staate ver-
trauen; so lange ein Hohenzoller auf dem Throne sitze, werde man der evan-
gelischen Kirche nicht zu nahe treten. (Beifall und Widerspruch.) Die evan-
gelische Kirche sei die Quelle des Königthums, und die Hohenzollern würden
nie vergessen, daß der Herr sie zu Schutzherren der Kirche machte, aus der
sie hervorgingen. Der Hohenzollernstaat werde die evangelische Kirche die
Spitzen dieser Gesetze nie fühlen lassen. Er selber habe sich in katholischen
Provinzen davon überzeugt, daß der Staat eine Handhabe brauche gegen die
Uebergriffe der katholischen Geistlichen. (Lebhafte Unruhe. Schlußrufe)
Also auch diesen Gesetzen müsse man den schuldigen Gehorsam zollen. Graf
Schulenburg-Beetzendorf: Es sei ein Irrthum, wenn man annehme,
die Kirchengesetze seien bloß gegen die katholische Kirche gerichtet. Auch die
größten Staatsmänner, selbst der allmächtige Mann, der jetzt unsere Geschicke
leite, müsse sich der Zeitströmung beugen, und so seien die Kirchengesetze nichts
weiter als eine Concession an den Liberalismus; weil man den Wogen der
Revolution nicht widerstehen konnte, gab man die Glaubenssätze der Kirche
frei. Auf den Staat habe er gar kein Vertrauen (Beifall), auf das Herr-
scherhaus, dem seine Familie treu diene, so lange es in der Mark sei, desto
mehr. (Zustimmung.) Es sei ein recht tragisches Geschick, daß nach Be-
zwingung des inneren Conflictes von 1866 die Volksvertretung vollständig
liberalisirt wurde, und daß nach den großen Kämpfen von 1870 dieser
„elende" Liberalismns die Kirche bezwang, die lutherische Kirche zur dienen-
den Magd machte. Diese heutige stattliche Kirchenversammlung verdanke man
neben der Gnade Gottes nur den gnädigen Verfügungen Friedrich Wil-
helm's IV. In dieser schweren Zeit sei es die vornehmlichste Pflicht der
Generation, dem geistlichen Stande neue Kräfte zuzuführen. (Beifall.)
v. Kleist Rehow ergeht sich in längerer Ausführung über die Wechsel-
stellung von Staat und Kirche und meint, das Gebot, man solle Gott mehr
gehorchen als den Menschen, habe seine volle Berechtigung, sofern der Staat
die ihm von Gott gegebene Macht nicht dazu anwende, wozu er sie erhalten,
nämlich über die sittliche Ordnung in der Welt zu wachen. Mit dem Wort:
Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist,“ sei leider
schon viel Mißbrauch getrieben worden, indem man den zweiten Satz mehr
betonte als den ersten. Pastor Steffan beantragt: 1) Es ist in dem Vor-
trage des Herrn Pastors v. Nathusius zweimal die Aeußerung vorgekommen:
die Kirche habe dem Staate zu gehorchen. Da diese Aeußerung mindestens
unverständlich ist und die Meinung erwecken könnte, als ordne der Vortra-
gende die Kirche dem Staate unter, so bittet der Unterzeichnete die Versamm-
lung, sich dahin auszusprechen, daß dieser mögliche Sinn jener Aeußerung
ihr fern liege, und daß sie nicht Subordination der Kirche unter den Staat,
sondern die Coordination beider zu einander anerkennt. 2) Es hat Herr
Superintendent Lengerich geäußert, daß er nach seinen Reise-Eindrücken die
Ueberzeugung gewonnen, daß der Staat der katholischen Kirche gegenüber zu
dem Erlaß der vier Kirchengesetze berechtigt gewesen, weil innerhalb derselben
gegen die Autorität des Staates gewühlt werde. Ich halte diese Aeußerung