Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 189 
Ich bin Mir bewußt, daß Ich über Erfüllung dieser Meiner Königlichen 
Pflicht Gott Rechenschaft schuldig bin, und Ich werde Ordnung und Gesetz 
in Meinen Staaten jeder Anfechtung gegenüber aufrecht halten, so lange 
Gott Mir die Macht dazu verleiht; Ich bin als christlicher Monarch dazu 
verpflichtet, auch da, wo Ich zu Meinem Schmerz diesen Königlichen Beruf 
gegen die Diener einer Kirche zu erfüllen habe, von der Ich annehme, daß 
sie nicht minder, wie die evangelische Kirche, das Gebot des Gehorsams gegen 
die weltliche Obrigkeit als einen Ausfluß des uns geoffenbarten göttlichen 
Willens erkennt. Zu Meinem Bedauern verleugnen Viele der Eurer Heilig- 
keit unterworfenen Geistlichen in Preußen die christliche Lehre in dieser Rich- 
tung und setzen Meine Regierung in die Nothwendigkeit, gestützt auf die 
große Mehrzahl Meiner treuen katholischen und evangelischen Unterthanen, 
die Befolgung der Landesgesetze durch weltliche Mittel zu erzwingen. Ich 
gebe Mich gern der Hoffnung hin, daß Eure Heiligkeit, wenn von der wahren 
Lage der Dinge unterrichtet, Ihre Autorität werden anwenden wollen, um 
der, unter bedauerlicher Entstellung der Wahrheit und unter Mißbrauch des 
priesterlichen Ansehens betriebenen Agitation ein Ende zu machen. Die Re- 
ligion Jesu Christi hat, wie Ich Eurer Heiligkeit vor Gott bezeuge, mit 
diesen Umtrieben nichts zu thun, auch nicht die Wahrheit, zu deren von 
Eurer Heiligkeit angerufenen Panier Ich Mich rückhaltslos bekenne. Noch 
eine Aeußerung in dem Schreiben Eurer Heiligkeit kann Ich nicht ohne 
Widerspruch übergehen, wenn sie auch nicht auf irrigen Berichterstattungen, 
sondern auf Eurer Heiligkeit Glauben beruht, die Aeußerung nämlich, daß 
Jeder, der die Taufe empfangen hat, dem Papste angehöre. Der evangelische 
Glaube, zu dem Ich Mich, wie Eurer Heiligkeit bekannt sein muß, gleich 
Meinen Vorfahren und mit der Mehrheit Meiner Unterthanen bekenne, ge- 
stattet uns nicht, in dem Verhältniß zu Gott einen anderen Vermittler als 
unseren Herrn Jesum Christum anzunehmen. Diese Verschiedenheit des Glau- 
bens hält Mich nicht ab, mit denen, welche den unseren nicht theilen, in 
Frieden zu leben und Eurer Heiligkeit den Ausdruck Meiner persönlichen Er- 
gebenheit und Verehrung darzubringen. Wilhelm.“ 
Der Briefwechsel wird nicht sofort, sondern erst am 14. Oktober, vor 
den allgemeinen Landtagswahlen in Preußen, durch den „Staatsanzeiger“ 
veröffentlicht. Derselbe macht in und außer Deutschland einen gewaltigen 
Eindruck. Die Ultramontanen erblicken in der Veröffentlichung alsbald einen 
schweren Schlag. Der Erzbischof Manning von Westminster erklärt deshalb 
sofort öffentlich den Brief des Papstes für eine bloße Fälschung und die 
ultramontanen Blätter Deutschlands behaupten, derselbe sei zum wenigsten 
ungenau oder unrichtig übersetzt. Die Veröffentlichung des italienischen Ori- 
ginals macht indeß allen Zweifeln alsbald ein Ende. 
 
3.   Sept. (Preußen). Der neue k. Gerichtshof für kirchliche Angelegen- 
heiten tritt zum ersten Mal in Berlin zusammen. 
4.   „ (Deutsches Reich). Der Kronprinz des deutschen Reiches und 
von Preußen tritt seine Truppeninspektion in Württemberg und Bayern 
an, wo er wiederum, wie schon im vorhergehenden Jahre, von der 
Bevölkerung äußerst sympathisch empfangen wird. 
5.   „ (Deutsches Reich). Frankreich zahlt den letzten Rest seiner 
Kriegsentschädigung von 5 Milliarden nach den Bestimmungen der 
letzten Convention darüber vom 15. März l. J. Die Auseinander- 
setzung zwischen Deutschland und Frankreich ist damit vollendet; die 
letzten deutschen Truppen werden den französischen Boden verlassen. 
6.   (Preußen). Gelegentlich der Beeidigung der Gemeindevorsteher