Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 215
geleistet. Sie hat weder eine Reform des öffentlichen Religionsunterrichts
angebahnt, um dadurch den immer zahlreicher entstehenden confessionell ge-
mischten Schulen und der zu hoffenden confessionellen Wiedervereinigung
der Lehrerbildungsanstalten auch den religiösen Boden zu bereiten, ohne wel-
chen diese Reform nicht wird gedeihen können; noch hat sie die staatskirch-
lichen Privilegien gemindert und gelockert. Im Gegentheil scheint sich auch
die liberale Partei, weil sie eben Oberwasser hat, in dem Genusse dieser
Privilegien ganz wohl zu fühlen.“
5. Nov. (Sachsen.) I. Kammer: ertheilt der Vorlage der Regierung betr.
Ausdehnung der Competenz des Reichs auf das gesammte Rechtsgebiet
mit 39 gegen 1 Stimme ihre Zustimmung. Erklärung der Regierung.
In der Debatte erklärt sich Graf Hohensthal als Vertreter des föderativ=
conservativen Standpunktes: er halte die Rechtseinheit in Deutschland in
hohem Grade für bedenklich, zum mindesten für verfrüht; die in Deutsch-
land dermalen geltenden Gesetze begründeten durchaus keinen Nothstand.
Trotzdem aber empfehle er, dem Decrete beizutreten, denn die Kammer möge
beschließen, was sie wolle, und die Regierung sich ablehnend verhalten oder
nicht, so werde die Competenzerweiterung dennoch beschlossen werden, weil
eine Minderheit von 14 Stimmen dagegen im Bundesrath sich nicht finden
würde. Dagegen wünsche er, daß man die Zustimmung ausdrücklich nur
auf „die beantragte" Competenzerweiterung beschränke. Justizminister Abeken
erblickt in letzterem Antrage nichts anderes, als was die Regierung wolle,
die übrigens unbedingt beabsichtige, der bezweckten Codification des Civil-
rechts in Deutschland zuzustimmen. Bürgermeister Hirschberg ist entschieden
für die Sache selber, in formeller Hinsicht aber der Ansicht, daß die Com-
petenzerweiterung der Reichsgewalt eine Abänderung der Verträge involvire,
auf Grund deren die Reichsverfassung errichtet wurde, und bei einer der-
artigen Abänderung hätten, wie ja auch zum Beispiel selbst das national-
liberale Reichstagsmitglied Hölder in Württemberg behauptete, die Einzel-
landesvertretungen mitzusprechen. Hiemit ist Bürgermeister Dr. Koch nicht
einverstanden. Er habe gewissenhaft das vorhandene Material geprüft und
sei dabei zu der Erkenntniß gekommen, daß es geradezu eine staatsrechtliche
Unmöglichkeit sei, wenn bei einer Abänderung der Reichsverfassung zuvor
alle einzelnen Landesvertretungen gefragt werden sollten. Eine solche Praxis
widerstreite völlig dem Wesen des Bundesstaates, und sei auch früher im
Staatenbunde nicht befolgt worden: er erinnere nur an die Bundestagsbe-
schlüsse von 1832, welche das Vereinsrecht und die Presse betrafen: ja die
sächsische Regierung habe selber bisher einer solchen Praxis nicht gehuldigt.
Nachdem dann Redner noch auf die Verhandlungen in den parlamentarischen
Körperschaften anderer Bundesländer hingewiesen, stimmt er zwar dem Depu-
tationsantrage bei, wünscht aber im eigenen Interesse des Landes, daß die
Regierung den mit dieser Vorlage betretenen Weg wieder verlasse, und ver-
wahrt sich gegen die Annahme, als ob er das Recht einer Zustimmung der
Kammern zugestehe. Minister v. Friesen erhebt sich hierauf mit der Er-
klärung: es sei unbedingt richtig, Reichsgesetze gehen den Landesgesetzen vor.
Der Bürgermeister Hirschberg habe Unrecht, wenn er sage, daß zu der bean-
tragten Competenzerweiterung die Zustimmung des sächsischen Landtags ge-
höre; nein, die Reichsgesetze erlangen auch ohne solche Zustimmung ihre Gül-
tigkeit. Anders aber stehe es mit der Verantwortlichkeit der Regierung ihren
Ständen gegenüber. Zum Schluß betont noch der Minister, daß sich die
Regierung in ihrem Gewissen verbunden halte, auch in Zukunft, wie im vor-
liegenden Falle zu handeln.
Der Abg. Ludwig interpellirt die Regierung über angebliche Gel-
tung des Unfehlbarkeitsdogma's in Sachsen.