Full text: Europäischer Geschichtskalender. Vierzehnter Jahrgang. 1873. (14)

Trankreich. 307 
die Organisation der öffentlichen Gewalten und die Einrichtung einer 
zweiten Kammer vor und will sie vorlesen. Die conservative Majori- 
tät beschließt aber, daß sie ihn nicht hören wolle. Die gesammte 
äußerste Linke (Peyrat) verlangt, daß die Versammlung sich binnen 
14 Tagen über ihre Auflösung schlüssig machen möge. Hr. Thiers 
kann offenbar weniger als je auf eine zuverlässige Mehrheit für seine 
Politik zählen. 
Die Verfassungsvorlagen des Hrn. Thiers: 
Allgemeine Einleitung: Dieselbe erinnert zunächst daran, daß die 
Nat.-Versammlung, als sie auf den Trümmern Frankreichs zusammentrat, 
die Republik als thatsächliche Regierungsform vorfand; sie habe demnach 
auch Hrn. Thiers zuerst zum „Chef der vollziehenden Gewalt der französi= 
schen Republik“ und dann zum „Präsidenten der französischen Republik“ 
ernannt. „Die Republik ist also in diesem Augenblicke die gesetzliche FormM 
unserer Regierung; aber der provisorische Charakter, welcher ihr bisher durch 
wiederholte Erklärungen beigelegt worden ist, noch mehr die Unvollständigkeit 
der Staatseinrichtungen, aus denen sie besteht, und die Lückenhaftigkeit ihrer 
Organisation versagen ihr diejenige Kraft und Dauerbarkeit, deren sie bedarf, 
um die ihr drohenden Prüfungen zu bestehen. Ueber kurz oder lang werden 
die gegenwärtigen Gewalten sich zu erneuern haben. Die Ungewißheit, welche 
über dem künftigen Regime Frankreichs waltet, schwächt und bedroht das 
gegenwärtige Regime und unterhält in den Gemüthern Zweifel und Beforg- 
nisse, welche den Interessen des Landes eben so schädlich sind als der Wirk- 
samkeit der Staatsgewalt. Jede Umwälzung scheint erlaubt gegenüber einer 
Staatsordnung, die man officiell für eine provisorische erklärt hat, und mit 
einer nur in ihren Umrissen scizzirten Regierung können wir in einem so 
tief gespaltenen Lande den Anforderungen der Lage nicht gerecht werden. 
Für die ersten Bedürfnisse des bedrängten Frankreichs konnte eine solche Re- 
gierung genügen. Unter Ihren Auspicien, m. HH., und mit Ihrem Bei- 
stande wurde der Friede nach außen, die Ruhe nach innen hergestellt, der 
öffentliche Credit gehoben und die Befreiung des Landesgebiets gesichert. 
Das hat eine provisorische Republik für Frankreich gethan. Was sie aber 
nicht vermag, so lange sie nur ein Versuch bleibt, das ist: die wachsende 
Unruhe der Geister zu beschwichtigen und die Verwegenheit der Parteien zu 
bemeistern. Wir müssen dem Land und Europa Vertrauen in unsere Zu- 
kunft einflößen: wie wäre dieß einer Regierung möglich, welcher man es als 
eine Usurpation verbietet, sich für eine definitive anzusehen? Diese entschei- 
denden Erwägungen haben Sie bestimmt, eine Reorganisirung der öffentlichen 
Gewalten anzuordnen und uns mit der Vorlegung eines ganzen Regierungs- 
plans zu beauftragen. Nach den Bestimmungen des Gesetzes selbst, welches 
den Gusteag enthielt, konnte diese Negierung keine andere als die republi- 
kanische sein. Der Entwurf, welchen wir Ihnen vorlegen, hat also die regel- 
mäßige Einführung der Republik zum ersten Gegenstande. Die Umstände 
erheischen diese Einführung, auch die Politik gebietet sie. Im Princip können 
die Ansichten über die beste Regierungsform getheilt sein; in der Praxis kann 
diese Frage, welche die Staatsrechtslehrer schon lange beschäftigt und noch 
lange beschäftigen wird, nach Ort und Zeit verschieden beantwortet werden. 
Nur engherzige und von Leidenschaft befangene Leute können die gewichtigen 
Gründe verkennen, welche aufgeklärte Nationen bestimmt haben, die constitu- 
tionelle Monarchie auf die Höhe der vollkommensten Erzeugnisse der Staats- 
wissenschaft zu stellen; aber nicht die Wissenschaft allein entscheidet über die 
Wahl einer Regierung, sondern auch die Möglichkeit, die Nothwendigkeit, der 
Umstand zumal, daß ein Land sich um jeden Preis constituiren muß. Bei 
aller Achtung vor den Ueberzeugungen und vor der Anhänglichkeit für eine 
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